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Tag der Seltenen Erkrankungen 2022: Fokus auf „Lunge und Psyche“

Monika Tempel • Feb. 01, 2022

Der Tag der Seltenen Erkrankungen am 28. Februar 2022 bietet eine Gelegenheit, auf die (gar nicht so seltenen!) Seltenen Lungen-Erkrankungen hinzuweisen.



Tag der Seltenen Erkrankungen – eine weltweite Tradition seit 2008

 

Der Tag der Seltenen Erkrankungen wird jedes Jahr am letzten Februartag begangen (d. h. am 28. Februar bzw. in Schaltjahren am 29. Februar, dem seltensten Tag des Jahres).

 

Dieser Aktionstag wurde von EURORDIS und zahlreichen Partnern der nationalen Allianz der Patientenorganisationen ins Leben gerufen und wird von ihnen koordiniert.

 

Er soll die Awareness (das Bewußtsein) für die Anliegen und Bedürfnisse von Menschen mit Seltenen Erkrankungen stärken.

 

In Deutschland koordiniert die ACHSE (Allianz Chronischer Seltener Erkrankungen) die Veranstaltungen anläßlich des Aktionstages. Beteiligen können sich ACHSE-Mitglieder, Betroffene, Angehörige, Freunde, Unterstützer aus Forschung und Klinik.



Welche Bedeutung hat der Tag der Seltenen Erkrankungen für das Thema „Lunge und Psyche“?

 

Als Seltene Krankheit werden in der Medizin Krankheitsbilder bezeichnet, die laut Definition weniger als fünf von 10 000 Menschen in Europa betreffen.

 

Von diesen entfallen wiederum etwa fünf Prozent auf Erkrankungen der Lunge mit ihren Bronchien, den Lungenbläschen (Alveolen), dem Lungen-Bindegewebe oder den Lungen-Gefäßen. Man unterscheidet über 100 unterschiedliche Seltene Lungen-Erkrankungen bzw. Seltene Erkrankungen mit Lungenbeteiligung. Die Anzahl der Betroffenen in Europa liegt laut Schätzungen bei immerhin etwa drei Millionen Menschen.

 

Seltene Erkrankungen im allgemeinen und Seltene Lungen-Erkrankungen im speziellen stellen Betroffene und ihre Angehörigen vor große Herausforderungen. Das bedeutet in der Regel auch eine hohe psychische Belastung.



Seltene Lungen-Erkrankungen: eine Übersicht

 

Seltene Lungen-Erkrankungen werden oft lange nicht diagnostiziert. Die Symptome entwickeln sich schleichend und sind eher unspezifisch. Außerdem orientiert sich die medizinische Diagnostik häufig am Grundsatz: „Wenn Du Hufgetrappel hörst, denke an Pferde und nicht an Zebras!“

 

Dabei sind die „Zebras“ im Bereich der Pneumologie durchaus zahlreich vertreten, wie die folgende (unvollständige!) Liste mit Beispielen von Seltenen Lungen-Erkrankungen zeigt.



Seltene Lungen-Erkrankungen durch Vererbung:


  • Alpha-1-Antitrypsin-Mangel (AATM – engl. AATD) – Häufigkeit 20:100.000 (Europäische Daten)
  • Cystische Fibrose (CF oder Mukoviszidose) – Häufigkeit 7,4:100.000 (Europäische Daten)

 


Mißbildungen der Lungen:


  • Non-CF-Bronchiektasen – Häufigkeit 67:100.000 (Deutsche Daten, 2013)

 


Erkrankungen des Lungen-Bindegewebes:


  • Lungenfibrosen (vor allem IPF) – Häufigkeit 5,4:100.000 (Europäische Daten)

 


Systemische Erkrankungen:


  • Sarkoidose – Häufigkeit 12,5:100.000 (weltweite Daten)
  • Lymphangioleiomyomatose – Häufigkeit 0,15:100.000 (weltweite Daten)

 


Erkrankungen der Lungen-Gefäße:


  • Pulmonale Hypertonie (PH oder PAH) – Häufigkeit 2:100.000 (Europäische Daten)

 


Infektionen:


  • Mykobakteriose (vor allem Tuberkulose – TB oder TBC) – Häufigkeit Pulmonale Nicht-Tuberkulöse Mykobakterielle Infektionen 6:100.000 (Europäische Daten)



[Angabe der Prävalenzen (Häufigkeiten) laut: Orphanet Berichtsreihe Nummer 1/2020 www.orpha.net, www.orphadata.org]



Der Tag der Seltenen Erkrankungen als Chance für die Psychopneumologie.

 

Auf Initiative des Bundesgesundheitsministeriums wurde mit dem Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) und dem ACHSE e. V. (Allianz Chronischer Seltener Erkrankungen) das Nationale Aktionsbündnis für Menschen mit Seltenen Erkrankungen (NAMSE) gegründet.

 

Bereits 2013 wurde der Nationale Aktionsplan für Menschen mit Seltenen Erkrankungen mit 52 Maßnahmenvorschlägen veröffentlicht.

 

Dieser Aktionsplan führt sieben Handlungsfelder auf. Für die Psychopneumologie sind einige der Handlungsfeldern von besonderem Interesse. Anhand der Text-Zitate aus dem Nationalen Aktionsplan kannst Du Dich selbst davon überzeugen. (Hervorhebungen durch Monika Tempel)

 

„Handlungsfeld 1: Versorgung, Zentren, Netzwerke

 

… AMSE empfiehlt die Bildung von Zentren in drei arbeitsteilig gegliederten und miteinander vernetzten Ebenen…


… Alle drei Typen von Zentren arbeiten interdisziplinär und multiprofessionell

 

Typ A (Referenzzentrum für Seltene Erkrankungen)

 

Aufgabe:

Vorhalten krankheitsübergreifender spezialisierter Versorgungsangebote für mehrere SE oder Gruppen von SE…


Kriterium 10. Konzept für die psychosoziale Betreuung

 

Aufgabe:

Strukturelle Voraussetzungen für Umgang mit fehlender oder unklarer Diagnose…


Kriterien:

  • Vorhalten eines Lotsen/ Koordinators
  • SOPs für Patienten mit unklarer Diagnose
  • SOPs für multiprofessionelle und interdisziplinäre Zusammenarbeit
  • Telemedizinangebote
  • Koordinationspartner für krankheitsübergreifende EU-Referenznetzwerke

 

Handlungsfeld 2: Forschung

 

… Auch Studien zur Bewertung der psychosozialen Probleme von Patienten mit einer Seltenen Krankheit und zur Erarbeitung möglicher Lösungsansätze werden als besonders bedeutsam erachtet…

 

Handlungsfeld 3: Diagnose

 

…Die korrekte und zeitnahe Diagnosestellung einer Seltenen Erkrankung ist die wichtigste Voraussetzung, um diese ursachenorientiert und wirksam zu behandeln. Doch auch für Patienten, die an einer Seltenen Erkrankung leiden, für die bisher keine Therapieoption besteht, ist eine frühzeitige Diagnosestellung von großer Bedeutung. Für sie endet mit einer präzisen Diagnose oft eine lange und belastende Zeit der Ungewissheit, verbunden mit zahlreichen (Fach-) Arztkontakten. Auch lassen sich anhand der Diagnose Aussagen zum Krankheitsverlauf ableiten. Darüber hinaus kann die Stellung einer Diagnose Einfluss auf soziale Aspekte, wie Schulausbildung, Berufswahl, Partnerwahl, oder Familienplanung und sozial-rechtliche Sachverhalte, wie Kostenübernahme von Therapieversuchen, oder sozial-medizinische Begutachtungen haben. Somit wird allein mit der Diagnosestellung ein unverzichtbarer Mehrwert für Betroffene von Seltenen Erkrankungen geschaffen…

 

Handlungsfeld 5: Informationsmanagement

 

…Menschen mit Seltenen Erkrankungen haben ein umfassendes Bedürfnis an krankheitsspezifischen Informationen. Bei noch nicht diagnostizierten Patienten können sie als erste allgemeine Orientierungshilfe dienen; Patienten mit einer Diagnose sind insbesondere auf der Suche nach Behandlungs- und Therapiemöglichkeiten auf qualitativ hochwertige Informationen angewiesen…

 

…Daher ist es notwendig, bestehende Informationsangebote zu prüfen und auszubauen sowie die Aufmerksamkeit auf bereits vorhandene Informationsquellen zu erhöhen. Für eine nachhaltige Verbesserung von Wissen über und Aufmerksamkeit für Seltene Erkrankungen sind darüber hinaus Maßnahmen im Bereich der ärztlichen Aus-, Fort- und Weiterbildung notwendig…

 

…Im Bereich der Seltenen Erkrankungen ist die ortsunabhängige Verfügbarkeit umfassenden medizinischen Wissens in der Fläche von großer Bedeutung, da es zu den einzelnen Erkrankungen nur wenige Experten gibt. Stark beeinträchtige Patienten, die nicht mehr gut reisen können, profitieren ebenfalls von der Telemedizin. Dies entspricht auch der Forderung der Europäischen Union "Die Expertise soll reisen, nicht der Patient"…

 

Handlungsfeld 6: Patientenorientierung

 

Patienten- und Selbsthilfeverbände bilden eine zentrale Säule im Versorgungssystem von Menschen mit Seltenen Erkrankungen. Sie leisten nicht nur einen wesentlichen Beitrag zur direkten Unterstützung einzelner Patienten, sondern setzen sich durch ihre kollektive Arbeit wesentlich für eine nachhaltige Verbesserung der Versorgung und Therapie betroffener Patienten ein.

 

Die Erfahrungen der Selbsthilfe sollen bei der Entwicklung und der Umsetzung von patientenbezogenen Forschungs- und Versorgungsprojekten für Seltene Erkrankungen angemessen einbezogen werden…“

 

[Quelle: Nationaler Aktionsplan für Menschen mit Seltenen Erkrankungen, 2013]



Entwicklung eines Psychosozialen Betreuungs-Konzeptes: Ein Blick in das Hintergrundpapier

 

Im Nationalen Aktionsplan für Menschen mit Seltenen Erkrankungen wird im Handlungsfeld 1: Versorgung, Zentren, Netzwerke im Anhang 2 ein Konzept für die psychosoziale Betreuung gefordert.

 

Auch im Hinblick auf die Psychopneumologie und das Thema „Lunge und Psyche“ lohnt es, das zugehörige Hintergrundpapier unter die Lupe zu nehmen.

 

Das 18seitige Dokument läßt erahnen, wieviel Engagement und Netzwerk-Arbeit in einer solchen Konzepterstellung stecken.

 

Verfolgt man im Hintergrundpapier die einzelnen Konzeptpunkte und diesbezüglichen Diskussionsschritte, so lassen sich idealtypische Ansätze für eine angemessene psychosoziale Versorgung von Patienten mit Seltenen Erkrankungen erkennen, beispielhaft etwa an folgendem Auszug:

 

„Beratungsleistungen mit psychischem Schwerpunkt

Bei psychischem Beratungsschwerpunkt beziehen sich die Beratungsleistungen auf den Umgang mit psychischen Belastungen und Krisen, die im Zusammenhang mit der Seltenen Erkrankung und ihrer Behandlung auftreten, sofern die psychischen Beschwerden nicht das Ausmaß einer psychischen Erkrankung erreichen. Ziel dabei ist es, möglichst frühzeitig die erforderliche Hilfestellung zu geben, um krankheitsbedingte psychosoziale Belastungen zu minimieren, die vorhandenen intrapersonellen (innerhalb der Person gelegenen) und sozialen Ressourcen (Kraftquellen) zu stärken und psychische Erkrankungen (im Sinne selektiver (ausgewählter) oder indizierter (gebotener) Prävention) zu verhindern.

Um Leistungen dieses Beratungsschwerpunktes passgenau anbieten zu können, ist im Vorfeld eine diagnostische Abklärung erforderlich, ob die psychischen Symptome bereits das Ausmaß einer psychischen Erkrankung erreicht haben (s. u.)…

Beratungsleistungen mit psychischem Schwerpunkt sind indiziert, wenn der Betroffene Anzeichen psychischer Belastung zeigt, aber (noch) keine psychische Erkrankung entwickelt hat.

 

Diagnostische Abklärung des Vorliegens einer komorbiden (krankheitsbegleitende) psychischen Erkrankung

Bei allen Seltenen Erkrankungen, bei denen aufgrund von empirisch bekannten Risikofaktoren (s. u.) ein erhöhter Bedarf an psychosozialen Betreuungsleistungen erwartet werden kann, ist es erforderlich, bei dem betroffenen Menschen die psychische Belastung und das Vorliegen einer komorbiden psychischen Erkrankung abzuklären. Möglichst früh ist ein Screening (Suchtestung, Siebtestung)  für psychosoziale Belastungen/psychische Erkrankungen durchzuführen. Wenn sich in diesem Screening Hinweise auf das Vorliegen einer psychischen Erkrankung ergeben, muss die Möglichkeit weiterer diagnostischer Schritte, insbesondere der Diagnostik des Vorliegens psychischer Erkrankungen gewährleistet sein.

 

Psychotherapeutische Leistungen

Wenn bei der psychodiagnostischen Abklärung der Menschen mit Seltener Erkrankung eine komorbide psychische Erkrankung festgestellt wurde, sind dem Patienten psychotherapeutische Leistungen anzubieten. Natürlich ist es dem Patienten überlassen, ob er diese Leistungen in Anspruch nehmen möchte. Inwieweit Kriseninterventionen, psychotherapeutische Kurzinterventionen oder Psychotherapie erforderlich sind, muss im Einzelfall in Abhängigkeit von der Ausprägung der psychischen Symptome, Art und Ausprägung der Seltenen Erkrankung und der Erwartungen des Patienten entschieden werden.“

 

[Quelle: HINTERGRUNDPAPIER – Erstellt in Arbeitsgruppe 3 (Versorgung, Zentren, Netzwerke) des NAMSE AG-Leitung: Prof. Dr. Leena Bruckner-Tuderman – PSYCHOSOZIALES BETREUUNGSKONZEPT – Autoren: Überarbeitung mit Ergänzungen/Änderungen von A. Reimann unter Berücksichtigung von Kommentaren von H. Raspe, BMFSJ, J. Schulte-Hillen, GKV-Spitzenverband sowie Mitgliedsorganisationen des ACHSE e.V. – Erklärungen der Fachbegriffe und Fettschrift-Markierung durch Monika Tempel]



NAMSE: Schon viel erreicht und noch viel mehr zu tun!

 

2017 wurde ein Monitoring-Bericht und 2019 ein Status-Bericht zur Umsetzung des Nationalen Aktionsplans für Menschen mit Seltenen Erkrankungen veröffentlicht.

 

Beide Berichte belegen, daß in allen sieben Handlungsfeldern erfreuliche Entwicklungen zu verzeichnen sind. Es wurde schon viel erreicht, aber es bleibt noch viel mehr zu tun für Menschen mit Seltenen Erkrankungen.


Welchen Beitrag die Psychopneumologie zum Thema „Seltene Lungenerkrankungen und die Psyche“ leisten könnte (vor allem in den Handlungsfeldern „Informationsmanagement“ und „Patientenorientierung“), das sollen die Blog-Beiträge im Monat Februar zeigen. Sie wählen dazu beispielhafte Patienten-Erfahrungen mit der Seltenen Erkrankung Alpha-1-Antitrypsin-Mangel. So kannst Du verfolgen, welche Angebote im Rahmen eines Kollaborativen Ansatzes bei psychischen Belastungen im Krankheitsverlauf von Seltenen Erkrankungen sinnvoll sein könnten - wie es auch der Nationale Aktionsplan für Menschen mit Seltenen Erkrankungen vorschlägt.



Themenverwandte Beiträge (geplant im Laufe des Monats Februar 2022)

 









Beitragschronik

 

  • Erstveröffentlichung: 1.2.2022



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