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Pneumologische Rehabilitation: Welche Rolle spielen gesundheitsfördernde Mikro-Entscheidungen?

Monika Tempel • Nov. 08, 2022

Was geschieht, wenn Dein Fokus darauf liegt, was Du anders machst, und nicht darauf, Deine Symptome zu verringern?


Pneumologische Rehabilitation neu denken

 

Nicht erst seit der Ausbreitung von COVID nimmt die Pneumologische Rehabilitation (PR) eine Schlüsselposition in der Behandlung von chronischen Lungenerkrankungen ein. Durch die COVID-Pandemie ist ihre Bedeutung jedoch gewachsen. Gleichzeitig beschleunigte der Druck der Pandemie-Maßnahmen zahlreiche Experimente mit innovativen Ansätzen der PR.

 


Warum brauchen wir Innovationen in der Pneumologischen Rehabilitation?

 

Ein ATS-Dokument (American Thoracic Society) von 2021 antwortet darauf folgendermaßen:

 

„Neuartige Modelle der pulmonalen Rehabilitation könnten viele der patienten- und systembedingten Hindernisse für die Teilnahme an pulmonaler Rehabilitation berücksichtigen… Die potenziellen Vorteile (von neuen Modellen) gehen jedoch über (die klassischen Barrieren) Zugang, Akzeptanz und Abschluß hinaus. Die Entwicklung einer Reihe von neuen Modellen steht im Einklang mit den modernen Grundsätzen der personenzentrierten Versorgung und der personalisierten Medizin, bei der die Behandlungsentscheidungen auf der Grundlage der individuellen Eigenschaften und Präferenzen des Einzelnen getroffen werden. Bei Verfügbarkeit von mehreren wirksamen Modellen kann dem jeweiligen Patienten das Programm angeboten werden, das bei ihm am ehesten erfolgversprechend ist, was sich je nach Faktoren wie dem Krankheitsstadium, Komorbiditäten, psychosozialen Merkmalen, der digitalen Kompetenz und der Wahl des Patienten unterscheidet. Neuartige Formen der pulmonalen Rehabilitation können auch die Einbeziehung neuerer Technologien erleichtern. Neben der Durchführung von Rehabilitation über Telekonferenzen und Apps gibt es jetzt die Möglichkeit, Wearables (z. B. tragbare Devices für körperliche Aktivität) und die Fernüberwachung zu integrieren. Neuartige Modelle bieten auch die Möglichkeit, Innovationen bei der Vermittlung von Bildung und Verhaltensänderung in der pulmonalen Rehabilitation zu etablieren.“

 


Welche neuen Modelle der PR sind bereits klinisch getestet?

 

Das ATS-Dokument zählt die folgenden neuen Modelle von PR auf:

 

  • häusliche Rehabilitation,
  • Telerehabilitation,
  • kombinierte Modelle für Herzinsuffizienz/ pulmonale Rehabilitation,
  • Programme, die nur minimale Ressourcen erfordern.

 

All diese Programme enthalten die Schlüsselkomponenten der PR:

 

  • Bewegungstraining,
  • Schulung,
  • Verhaltensänderung.

 

Bei allen drei Schlüsselkomponenten können Methoden der Psychopneumologie eingesetzt werden. Unverzichtbar ist der Einsatz der Psychopneumologie beim Thema „Verhaltensänderung“. Dieses Thema rückt auch ein besonders interessantes neues Modell der Pneumologischen Rehabilitation in den Fokus, das nun vorgestellt wird.

 


Intensive interdisziplinäre Gruppen-PR

 

Eine norwegische Forschergruppe hat ein hochkonzentriertes Behandlungsformat, das „Bergen 4-Day Treatment“, entwickelt. Dieses Format ist bei psychischen Störungen (Zwangsstörungen, Angststörungen) bereits erfolgreich getestet.

 

Basierend auf diesen Erfahrungen haben die Forscher einen hochkonzentrierten interdisziplinären Rehabilitationsansatz für chronische Krankheiten entwickelt.

 

Momentan läuft auch eine Studie zu einem entsprechend entwickelten konzentrierten, interdisziplinären Gruppen-Rehabilitationsprogramm für Patienten mit COPD.

 


Wie verläuft die intensive interdisziplinäre Gruppen PR bei COPD

 

Die Eckpfeiler der Intervention sind:

 

  • Vorbereitung des Patienten auf Veränderungen vor der Behandlung,


  • Konzentration auf gesundheitsfördernde Mikro-Entscheidungen anstelle von Symptomen,


  • die Erwartung, daß der Patient die Veränderungen in sein Alltagsleben integriert,


  • gezielte praktische Nachbereitung.

 

Nach einem Basis-Assessment folgen drei Phasen der Intervention und eine Phase der Nachbereitung.

 


Phase 1: Vorbereitung auf die Veränderung

 

Es ist wichtig, daß die Patienten vor der Rehabilitation gründlich informiert und vorbereitet sind und daß sie sich aktiv für eine Veränderung entscheiden. Während eines Informationsgesprächs werden die folgenden Themen mit Hilfe von nicht-technischen Begriffen und leicht verständlichen Metaphern erläutert (jeweils mit krankheitsrelevanten Modifikationen):

 

  • Thema 1: Funktionsfähigkeit im Alltag verbessern


  • Thema 2: Individuelle Muster der Symptomregulation infrage stellen


  • Thema 3: Therapeuten-unterstützte Verhaltensaktivierung nutzen


  • Thema 4: Gruppen-Setting nutzen


  • Thema 5: Grundlegende Rhythmen des Körpers nutzen


  • Thema 6: Erhebliche Eigenleistung akzeptieren


  • Thema 7:  Mit der Planung des Lebens nach der konzentrierten Intervention beginnen


  • Thema 8: Keine Teilnahme an der Gruppen-Intervention, bis Bereitschaft besteht

 


Phase 2: Die konzentrierte Gruppen-Intervention

 

Die Elemente der Gruppen-Intervention umfassen:

 

  • Patientenschulung,
  • Mikro-Entscheidungen,
  • individuell zugeschnittene Praktiken,
  • Rückmeldungen und Coaching,
  • körperliche Aktivität,
  • Achtsamkeits-Übungen,
  • Ernährung und Eßgewohnheiten,
  • Medikamenten-Gebrauch,
  • individuelles Programm (in den Zeiten außerhalb des Gruppen-Programms),
  • individuelle Beratung (durch Gruppenleiter, Psychologe, Psychiater),
  • Vorbereitungen für das Leben nach der Behandlung.

 


Phase 3: Integration der Veränderung in den Alltag

 

Für festgelegte Zeiträume nach der Behandlung erfolgen tägliche Online-Berichte und individuelle Beratung per Video oder Telefon.

 


Welche Besonderheiten weist die intensive interdisziplinäre Gruppen-PR auf?

 

Die Intervention besteht aus den oben beschrieben drei gleich wichtigen Phasen.

 

Während der gesamten Intervention liegt der Schwerpunkt darauf, Veränderung zu planen, zu beginnen und aufrechtzuerhalten.

 

Im Fokus steht dabei die Verlagerung weg von der Überwachung der Symptome hin zu einem aktiven Ansatz für tägliche gesundheitsfördernde Mikro-Entscheidungen.

 

Absichtlich überschneiden sich die in den verschiedenen Phasen behandelten Themen erheblich.


Um die zentralen Aspekte eines bestimmten Gesundheitsproblems und die damit verbundenen individuellen Herausforderung einzubeziehen, werden Anpassungen der Intervention vorgenommen.

 

Die Besonderheiten der intensiven interdisziplinären Gruppen-PR zeigen sich bereits in einem Fragebogen, der eigens für das Basis-Assessment und die Verlaufsbeobachtung geschaffen wurde.

 

Dieser Fragebogen wurde in Zusammenarbeit mit Patienten entwickelt und bezieht sich auf die häufigsten Coping-Strategien zum Umgang mit belastenden Symptomen.

 

Vor und nach der Behandlung sowie bei den Nachuntersuchungen (nach 3, 6 und 12 Monaten) werden die Patienten gebeten, auf einer Skala (von 0 bis 10) zu bewerten, inwieweit sie die folgenden Coping-Strategien verwendet haben, um ihre Symptome zu bewältigen:

 

1. Ich warte mit einer Aktivität, bis ich mich dazu in der Lage fühle.

2. Ich beginne eine Aktivität erst, wenn ich sicher bin, daß ich Erfolg haben werde.

3. Ich stelle sicher, daß sich die Symptome nicht verschlimmern.

4. Ich stelle sicher, daß ich auf Herausforderungen vorbereitet bin.

5. Ich versuche, mich zu beruhigen, bevor ich weitermache, wenn ich ängstlich werde.

6. Ich verbringe viel Zeit damit, mir Sorgen zu machen und zu grübeln.

7. Ich vermeide soziale Kontakte, wenn ich mich dazu nicht in der Lage fühle.

8. Ich stelle sicher, daß ich genug Ruhe bekomme.

9. Ich versuche, andere nicht sehen zu lassen, wie ich mich fühle.

10. Ich versuche, eine positive Einstellung zu haben.

11. Ich folge meinem Bauchgefühl.

 

Eine weitere Besonderheit ist die Startbedingung für die Intervention.

 

Um sicherzustellen, daß die Patienten auf die Intervention vorbereitet sind, werden sie 1 bis 3 Wochen vor der konzentrierten Rehabilitation zu einem 1-stündigen Gruppentreffen eingeladen. Bei diesem Treffen werden Einzelheiten des Programms beschrieben. In der Woche vor der Intervention ruft der Gruppenleiter jeden Patienten an, um sich zu vergewissern, daß die Patienten die notwendigen Informationen erhalten haben. Hierbei erklärt jeder Patient ausdrücklich seine Bereitschaft für das konzentrierte Rehabilitationsprogramm.

 

Auch die intensive Behandlungs-Phase weist zwei Besonderheiten auf.

 

Der Schwerpunkt der 4-tägigen Behandlung liegt auf der "LEaning in Technique" (LET). Sie verlagert den Schwerpunkt von unangenehmen Symptomen, Gedanken und Emotionen auf das Handeln.

 

Dieses Handeln folgt sogenannten Mikro-Entscheidungen. Mit Mikro-Entscheidungen wählt der Patient in kleinen Schritten einen anderen, aktiven Umgang mit der Herausforderung, die relevante Ängste oder Unbehagen auslöst.

 

Für die Mikro-Entscheidungen werden die Patienten ermutigt, alltägliche kleine Dinge zu tun, die sie bisher aus Angst vor einer Symptomverschlechterung vermieden haben. Es wird betont, daß die Veränderung als Verhalten gemessen wird („was Sie tun“) und nicht anhand der Verringerung der Symptome. Die Symptomreduzierung hingegen wird als ein positiver und wertvoller Nebeneffekt der Verhaltensänderung beschrieben.

 

Die Integration der Verhaltensänderung in den Alltag ist bei der intensiven interdisziplinären Gruppen-PR gekennzeichnet durch eine engmaschige und individuelle Nachbetreuung, die gleichzeitig weitere Anpassungen an die persönlichen Bedürfnisse der Patienten ermöglicht.

 

BTW: Wer sich mittels eines Videos über die Besonderheiten des „Bergen 4-Day Treatment“ informieren möchte, findet am Ende dieses Blog-Beitrages den LINK zum YouTube-Video eines der beteiligten Forscher (in Norwegisch mit englischen Untertiteln).

 


Fazit für die psychopneumologische Praxis

 

Die Ergebnisse der intensiven interdisziplinären Gruppen-Intervention bei chronischen Erkrankungen sind vielversprechend und lassen auch für die entsprechend konzipierte Gruppen-PR für COPD-Patienten auf erfreuliche Resultate hoffen.

 

Für eine Pneumologische Rehabilitation der Zukunft könnten damit folgende Aufforderungen in den Fokus der Aufmerksamkeit rücken:

 

  • Die Rolle der Bereitschaft auf eine Verhaltensänderung beachten!


  • Die Bedeutung von Mikro-Entscheidungen nutzen!


  • Die Nachhaltigkeit durch individuelles Feedback und Coaching sichern!

 


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Beitragschronik


  • Erstveröffentlichung: 15.11.2022

 

 

Quellen und weiterführende Literatur

 

  • Holland, A. E., Cox, N. S., Houchen-Wolloff, L., Rochester, C. L., Garvey, C., ZuWallack, R., ... & Singh, S. J. (2021). Defining modern pulmonary rehabilitation. An official American thoracic Society workshop report. Annals of the American Thoracic Society, 18(5), e12-e29.

 

  • Kvale, G., Frisk, B., Jürgensen, M., Børtveit, T., Ødegaard-Olsen, Ø. T., Wilhelmsen-Langeland, A., ... & Søfteland, E. (2021). Evaluation of novel concentrated interdisciplinary group rehabilitation for patients with chronic illnesses: Protocol for a nonrandomized clinical intervention study. JMIR Research Protocols, 10(10), e32216.


  • Frisk, B., Njøten, K. L., Aarli, B., Hystad, S. W., Rykken, S., Kjosås, A., ... & Kvale, G. (2022). A Novel Concentrated, Interdisciplinary Group Rehabilitation Program for Patients With Chronic Obstructive Pulmonary Disease: Protocol for a Nonrandomized Clinical Intervention Study. JMIR Research Protocols, 11(10), e40700.

 

 

 

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