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Alpha-1-Antitrysin-Mangel und die Psyche: Belastungen – Bedürfnisse – Behandlungsperspektiven (Teil 1)

Monika Tempel • Feb. 03, 2022

Wünschenswerte Angebote für die psychischen Belastungen bei AATM – dargestellt anhand der Erfahrungen von Betroffenen bei der Diagnose-Übermittlung.

  

Hintergrund

 

Alpha-1-Antitrypsin-Mangel (AATM bzw. engl. Alpha-1 Antitrypsin Deficency AATD) ist eine der häufigsten Seltenen Erkrankungen in Europa und kann bei Erwachsenen zu einer schweren Lungen- und/oder Lebererkrankung führen.

 

Die Vielgestaltigkeit des klinischen Krankheitsbildes eines AATM hängt von zahlreichen genetischen und äußeren Aspekten ab. Umweltfaktoren, wie z. B.

Exposition gegenüber Tabakrauch, Chemikalien und Staub, beeinflussen wahrscheinlich den Schweregrad der mit AATM verknüpften Lungenerkrankung.

 

Die Behandlung von AATM-assoziierten Lungenkrankheiten umfasst inhalative Medikamente (in der Regel Sprays), Immunisierung gegen Atemwegsviren (Impfungen gegen Influenza, Pneumokokken, SARS-CoV-2), Antibiotika zur Behandlung akuter Atemwegsinfektionen, Langzeit-Sauerstofftherapie und körperliche Aktivität (Lungensport).

 

Die einzige krankheitsspezifische Behandlung für AATM-assoziierte Lungenerkrankungen ist die intravenöse Augmentationstherapie, die das fehlende Protein aus gereinigtem menschlichem Blutplasma enthält.

 

Es gibt umfangreiche Forschungsanstrengungen, um neue, wirksame Behandlungen für die Krankheit zu entwickeln. Bisher sind innovative Therapie jedoch noch nicht zugelassen worden.



Einblicke in das Leben mit Alpha-1-Antitrypsin-Mangel

 

In einem Artikel der Zeitschrift „Breathe“ berichten drei „Alphas“ (wie sich AATM-Betroffene selbst nennen) aus verschiedenen europäischen Ländern von ihren Belastungen und Bedürfnissen.

 

Einige Erfahrungen ähneln sich. Manchen Erfahrungen unterscheiden sich jedoch. Sie sind so unterschiedlich wie die persönliche oder gesellschaftliche Situation der Betroffenen. Allen gemeinsam ist die Erfahrung, daß ein Leben mit der seltenen Erkrankung Alpha-1-Antitrypsin-Mangel für Patienten und Angehörige eine ganz besondere Herausforderung darstellt. Dies gilt in hohem Maße auch für Belastungen im Hinblick auf AATM und die Psyche.

 

Die drei „Alphas“ sind:


  • Eine Alpha-1-Patientin in Deutschland (Marion Wilkens) – AATM-Diagnose  mit 40 Jahren, 2 Kinder, Vorstandsvorsitzende der Patienten-Organisation „Alpha-1 Deutschland“.


  • Ein Alpha-1-Patient aus Groß-Britannien (Michael Bartlett) – AATM-Diagnose mit 35 Jahren, 2 Kinder, krankheitsbedingt berufsunfähig seit 41. Lebensjahr.


  • Ein Alpha-1-Patient aus Belgien (Frank Willersinn) – AATM-Diagnose „als Zufallsbefund“ mit 45 Jahren, Präsident von „Alpha-1 Plus Belgien“.

 

Dieser Blog-Beitrag zeichnet zunächst die geschilderten psychischen Belastungen im Krankheitsverlauf der jeweils Betroffenen kurz nach. Im Anschluß versucht er, die zugrundeliegenden Bedürfnisse zu ermitteln und schließlich ein wünschenswertes, idealtypisches Angebot aus dem Repertoire der Psychopneumologie vorzuschlagen.


Wichtiger Hinweis: Die Vorschläge sind vorwiegend erfahrungsbasiert und nur als Anregung gedacht, um Menschen mit Seltenen Erkrankungen eine möglichst umfassende Unterstützung im Krankheitsverlauf bieten zu können.



Patienten-Erfahrung: Diagnose-Schock

 

„Die AATD-Diagnose zu erhalten war … ein harter Schlag. Mein Arzt hatte einen starken Verdacht (deshalb führte er den Test durch), gab mir aber keine Informationen über die Krankheit - alles war einfach schrecklich…

… Ich begann mich zu informieren. Im Internet fand ich einige Informationen, aber nicht alles war richtig, wie ich heute weiß. Ich hatte Angst, dass ich meine beiden Kinder nicht ins Erwachsenenalter begleiten würde…

… Ich habe mir auch große Sorgen um meine beiden Kinder gemacht. Hat der Arzt nicht gesagt, es sei ein Gendefekt? Habe ich es weitergegeben?...“ (Marion Wilkens)

 

„Als bei mir im Alter von 35 Jahren AATD diagnostiziert wurde, war das ein großer Schock …

… Diese Zeit war für mich wie ein Wirbelwind: Ich ging von der Vorstellung aus, dass ich eine behandelbare Krankheit (Asthma) habe, bis man mir sagte, dass es nur begrenzte Hilfe für mich gäbe und dass eine Lungentransplantation wahrscheinlich meine einzige Option sei. Ich wusste nicht, was ich denken sollte…“

(Michael Bartlett)

 


Patienten-Bedürfnisse


  • Verläßliche und verständliche Gesundheits-Informationen zu AATM,


  • Gesprächsangebot zum Umgang mit der eigenen Diagnose und den damit verbundenen Konsequenzen,


  • Informationen/Gesprächsangebot zum Umgang mit der genetischen Konstellation.



Wünschenswerte Angebote im Rahmen einer Kollaborativen Versorgung  

 

Die oben zitierten Aussagen zur Diagnose-Mitteilung vermitteln ein sehr eindrückliches Bild von typischen Patienten-Erfahrungen.

 

Die Diagnose-Übermittlung ist eine sogenannte Schwellensituation. Im Verlauf von chronischen, bisher nicht heilbaren und mitunter lebenszeitverkürzenden Erkrankungen gibt es mehrere Phasen und Schwellensituationen.

 

Beispielhaft und stark schematisierend (!) dargestellt sind dies:


  • Phase: Abklärung der Symptomatik


  • Schwellensituation: Diagnose-Mitteilung und Therapieentscheidung


  • Phase: Einleitung der Therapie


  • Schwellensituation: Motivation und Adhärenz (Therapietreue)


  • Phase: Stabilität


  • Schwellensituation: Akzeptanz und Selbst-Management


  • Phase: Instabiliät und beginnende Verschechterung


  • Schwellensituation: Coping


  • Phase: Fortschreitende Verschlechterung und Lebensende


  • Schwellensituation: Progredienzangst und End-of-Life-Ängste

 

In Schwellensituationen steigt die Gefahr, daß die krankheitstypischen Belastungen zu einer Überforderung der Bewältigungs-Strategien von Patienten und Angehörigen führen. Deshalb ist in diesen Schwellensituationen ein multidisziplinäres Angebot besonders wünschenswert.

 

Bei einem AATM-Diagnose-Gespräch sähe das idealerweise so aus:

 

Zur Diagnose-Übermittlung wird der Patient (möglichst mit einer Begleitperson seines Vertrauens) eingeladen.

 

Dem Patienten und seiner Begleitperson stehen beim Gespräch zwei Gesundheitsfachkräfte mit AATM-Expertise zur Verfügung: eine mit Erfahrung im Bereich aus den medizinischen Fachdisziplinen Innere Medizin/Pneumologie; eine zweite mit psychosozialem Berufshintergrund.

 

Mit Blick auf die körperlichen Aspekte der Erkrankung werden verständliche Informationen zum Krankheitsbild im Sinne einer patienten-zentrierten Kommunikation vermittelt (etwa nach dem SPIKES-Protokoll und den Regeln der Zwei-Wege-Kommunikation).

 

Mit Blick auf die emotionale Bedeutung der Diagnose-Mitteilung erfolgt eine Aufklärung über die psychosozialen Aspekte der Erkrankung. Bei erkennbarer oder geäußerter emotionaler Belastung folgt ein empathisch formuliertes Angebot zur Unterstützung (zunächst für den Umgang mit der Diagnose).


Es folgen Hinweise auf die genetischen Aspekte und das Angebot zu einem zeitnahen zweiten Gespräch.

 

In diesem Folgegespräch können Fragen behandelt werden, die dem Patienten oder seinen Angehörigen in der Zwischenzeit gekommen sind. Außerdem bietet das zweite Gespräch Gelegenheit, im Bedarfsfall individuelle Unterstützungsangebote zu ermitteln und einzuleiten (z. B. ein psychosoziales oder psychotherapeutisches Angebot).

 

Patient und Angehöriger erhalten schließlich noch verständliches schriftliches Informationsmaterial mit Hinweisen auf weiterführende, verläßliche Informationsquellen und Anlaufstellen (z. B. die Patienten-Organisation „Alpha-1 Deutschland“).

 

Das schriftliche Informationsmaterial sollte neben den körperlichen Aspekten der Erkrankung auch die psychosozialen Auswirkungen beleuchten, wie etwa die beiden Ratgeber zum Thema „AATM und die Psyche“ (der Firma CSL Behring). Sie bieten Hintergrundinformationen und praxisnahe Hinweise anhand von typischen Situationen (zum Beispiel bei der Diagnose-Übermittlung).

 

Hier der LINK zum Ratgeber „AATM und die Psyche“ für Patienten und Angehörige.

 

LINK zum Ratgeber „AATM und die Psyche“ für Behandler (nach Anmeldung für Fachkreise auf derselben Website)

 


Vorteile des Kollaborativen Ansatzes beim AATM-Diagnose-Gespräch

 

In dem oben beschriebenen idealtypischen Vierer-Setting wird bereits bei der Diagnose-Übermittlung erkennbar, daß AATM eine lebensverändernde Erkrankung ist, die viele Dimensionen im Alltag der Betroffenen betrifft. Es wird ganz selbstverständlich verdeutlicht, daß der Patient mit allen Dimensionen (Körper, Psyche, Geist, Soziale Beziehungen) von nun an Unterstützung durch AATM-Experten erwarten und in Anspruch nehmen kann.

 


Manchmal läuft es anders ... Patienten-Erfahrung: „Vergessen“ statt Diagnose-Schock

 

„...Zu dieser Zeit hatte ich gerade meinen linken Arm durch eine Infektion verloren und keine Zeit, mich um meine neue genetische Erkrankung zu kümmern…

… Ich vergaß also die AATD etwa 10 Jahre lang,…“

(Frank Willersinn)

 

Eine solche Patienten-Erfahrung ist keine Ausnahme. Sie ist umso wahrscheinlicher, wenn die AATM-Diagnose ein Zufallsbefund ist und noch keine einschränkenden Symptome aufgetreten sind.

 


Vorteile des Kollaborativen Ansatzes beim AATM-Diagnose-Gespräch

 

Auch bei dieser Konstellation bietet das beschriebene idealtypische Vierer-Setting Vorteile.

 

Es vermittelt einerseits einen Eindruck von der Bedeutung, die eine AATM-Diagnose für das Leben des Betroffenen entwickeln kann. Andererseits bietet es die Möglichkeit, das Wissen um die eigene AATM-Diagnose in den Hintergrund treten zu lassen mit der Gewißheit, im Bedarfsfall auf ein kompetentes, interdisziplinäres AATM-Team zurückgreifen zu können.

 

Genau diese Gewißheit sollte das Ergebnis eines AATM-Diagnose-Gesprächs mit Kollaborativem Ansatz sein – unabhängig davon, ob der Betroffene das angebotene Folgegespräch nutzen wird oder nicht.

 

Denn der Wunsch nach verläßlichen Informationen und individuellen Behandlungsangeboten taucht mit hoher Wahrscheinlichkeit im Laufe der Zeit auf. So auch bei Frank Willersinn: „ … und dann, an einem sonnigen Wochenende im März 2008, wurde ich plötzlich neugierig und hatte viele Fragen: Ich wollte mehr wissen über meine "genetische Veranlagung" …“

 

Wie es mit den Patienten-Erfahrungen im Krankheitsverlauf weitergeht, kannst Du in folgendem Blog-Beitrag lesen: „Alpha-1-Antitrysin-Mangel und die Psyche: Belastungen – Bedürfnisse – Behandlungsperspektiven (Teil 2)“.

 


Themenverwandte Beiträge

 





 


Beitragschronik

 

  • Erstveröffentlichung: 3.2.2022

 


Quellen:


  • Wilkens, M., Bartlett, M., Willersinn, F., O'Hara, K., Boyd, J., & Denning, J. (2021). The patient perspective of alpha-1 antitrypsin deficiency: disease burden and unmet needs. Breathe, 17(1).

 


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