„Chor der Atemlosen“, „Chorpidus“, „Pneumissimo“ – nur drei Beispiele von bewährten Projekten zum Thema „Singen für die Lunge“. Der folgende Beitrag stellt die Theorie hinter diesem Konzept vor und zeigt auf, warum es eigentlich „Singen für Lunge und Psyche“ heißen müßte.
Wer sich allgemeinverständlich über die atemphysiologischen Hintergründe des Singens informieren möchte, ist mit einer kleinen (pharmagesponserten) Broschüre sehr gut bedient. Die theoretisch begründeten und erfahrungsbasierten Ausführungen von Dr. Anette Einzmann tragen den Titel „Die positiven Effekte des Singens bei COPD“. Sie sind nicht nur für Patienten mit chronischen Lungen-Erkrankungen eine gewinnbringende Lektüre.
Die zentralen Aussagen lauten: Singen mit COPD-Patienten bedeutet mehr als nur „Wohlbefinden“. Es geht vielmehr ganz konkret darum, das individuelle Atemmuster zu verbessern. Dies läßt sich nur durch einen intensiven Übungsprozeß erreichen. Dabei wird der Trainingscharakter dieser Veränderung weniger als Anstrengung, eher als lustvoll empfunden.
Singen kann an der physiologische Ursache der Obstruktion bei COPD nichts ändern. Es kann jedoch die „Atemnot-Angst-Spirale“ beeinflussen und den Teufelskreis aus Atemnot, Angst, dynamische Überblähung, verstärkte Atemnot und Angst… durchbrechen.
Anette Einzmann spricht von einem „Teufelskreis der Hochatmung“ mit einem „Atemmuster, das durch die einseitige Benutzung des oberen Brustraums, durch eine rhythmisch schnelle Abfolge von Ein- und Ausatmung und das Fehlen jeglicher Pause gekennzeichnet ist.“
Dieser panische Zustand des „Nach-Luft-Schnappens“ ist den meisten COPD-Patienten aus eigener Erfahrung bekannt. Und auch die Notfall-Empfehlungen, wie beispielsweise atemerleichternde Haltungen und Widerstandsatmen (z. B. Lippenbremse).
Singen verfolgt das Prinzip des dosierten Widerstandsatmens quasi als eine „Lippenbremse mit Lust“. Es nutzt nämlich die Kunst der angemessenen Dosierung von Stimmbandschwingung und Ausatemluft durch den Einsatz von Zwerchfell, Zwischenrippenmuskulatur und den gesamten Körpertonus (besonders der unteren Rumpfpartien). Damit wirkt es dem angstbesetzten Einsatz der oberen Atemhilfsmuskulatur entgegen, die das Abatmen von Kohlendioxid und das Einfließen von Sauerstoff erschweren.
Durch die Luftdosierung beim Singen wird das Ausatmen sanfter und länger und damit „alveolenfreundlich“, weil der Kollaps der Alveolenwände verhindert wird.
Hier wird deutlich, daß die Selbstwirksamkeitserfahrung beim Singen ihren Fokus auf das Ausatmen richtet. Ebenso wie die achtsamkeitsbasierten Ansätze der Psychopneumologie baut „Singen für die Lunge“ damit auf eine Haltung des Abgebens, Loslassens und Geschehen-Lassens körperlicher Prozesse trotz empfundenen „Mangels“ und Neigung zu willentlichem „Machen“. Singen antwortet damit, wie auch viele Methoden der Psychopneumologie, auf das „Paradoxon des Atmens“ mit einer Übung in Selbstwahrnehmung und Achtsamkeit: Statt Appell an den Willen („Tief einatmen!“) ein Werben für das rezeptive Geschehen-Lassen (mit Fokus auf „Den Ton erklingen lassen“).
[Quelle: Dr. Anette Einzmann (2019). Die positiven Effekte des Singens bei COPD]
Auch ein Fachbeitrag von Lewis A und Kollegen zum Thema „Singen für die Lungen-Gesundheit“ befaßt sich mit den physiologischen Effekten des Singens.
In einer Tabelle des Artikels werden (anhand medizinisch-physiologischer Fakten) die Elemente des Singens den potenziellen physiologischen Grundlagen der Vorteile für Menschen mit COPD gegenübergestellt:
[Quelle: Lewis, A., Philip, K. E. J., Lound, A., Cave, P., Russell, J., & Hopkinson, N. S. (2021). The physiology of singing and implications for ‘Singing for Lung Health’ as a therapy for individuals with chronic obstructive pulmonary disease. BMJ open respiratory research, 8(1), e000996.]
Eine Studie von Philip KE und Kollegen vergleicht die physiologischen Anforderungen beim Singen mit dem Gehen auf dem Laufband.
Die Studie kommt zu dem Ergebnis, daß Singen akute physiologische Reaktionen auslöst, die einer Aktivität mittlerer Intensität entsprechen. Damit sind die akuten physiologischen Anforderungen beim Singen vergleichbar mit dem Gehen in mäßig zügigem Tempo auf einem Laufband. Die Forscher schlußfolgern, daß dies wichtige vorläufige Ergebnisse sind, angesichts der Notwendigkeit, gerade für Patienten mit eingeschränkter Lungenfunktion angenehme und gut verträgliche körperliche Aktivitäten zur Förderung von Gesundheit und Wohlbefinden zu etablieren. Weitere Forschung scheint allerdings notwendig, vor allem im Hinblick auf die verschiedenen Gesangsstile und deren Auswirkungen auf die körperliche Leistungsfähigkeit der Sänger.
[Quelle: Philip, K. E., Lewis, A., Buttery, S. C., McCabe, C., Manivannan, B., Fancourt, D., ... & Hopkinson, N. S. (2021). Physiological demands of singing for lung health compared with treadmill walking. BMJ open respiratory research, 8(1), e000959.]
Den Brückenschlag zwischen Theorie und Praxis beim Thema „Singen für Lungen-Gesundheit“ schlägt die Studie von Kaasgaard M und Kollegen. Sie untersucht Singen als alternative Trainings-Methode im Rahmen der Pneumologischen Rehabilitation für COPD-Patienten.
In dieser RCT (Randomisierten Kontrollierten Studie) wurde die Wirksamkeit eines 10-wöchigen PR-Programms untersucht, das entweder "Singen für die Lungen-Gesundheit" (SLH-Training) oder normales körperliches Bewegungstraining umfaßte. Als Primärer Endpunkt wurde die Veränderung der körperlichen Leistungsfähigkeit (6MWD = 6-Minuten-Gehtest) vom Ausgangswert bis nach der PR betrachtet. Sekundäre Endpunkte waren: Veränderungen der Lebensqualität (SGRQ = St George's Respiratory Questionnaire, HADS = Hospital Anxiety and Depressions-Score, Lungenfunktion, Atemnot (Dyspnoe) und Adhärenz (Therapietreue).
Beide Gruppen verbesserten sich signifikant bei 6-Minuten-Gehtest und Lebensqualität. SLH-Training war beim Gehtest nicht unterlegen gegenüber normalem körperlichen Bewegungstraining. Es ergaben sich keine signifikanten Unterschiede zwischen den Gruppen hinsichtlich SGRQ, HADS, Lungenfunktion, Dyspnoe oder Adhärenz.
Die Forscher halten künftige Studien für erforderlich, die sich mit der Reproduzierbarkeit, den Langzeiteffekten und der Gesundheitsökonomie befassen.
[Quelle: Kaasgaard, M., Rasmussen, D. B., Andreasson, K. H., Hilberg, O., Løkke, A., Vuust, P., & Bodtger, U. (2021). Use of Singing for Lung Health as an alternative training modality within pulmonary rehabilitation for COPD: an RCT. European Respiratory Journal.]
Die Auswirkungen des Singens auf die Psyche durchziehen bereits alle obigen Ausführungen. Doch dieser Blog-Beitrag wäre unvollständig ohne den speziellen Fokus auf Psychopneumologie.
Auch zu den psychosozialen Hintergründen des Themas beschreibt Dr. Anette Einzmann alles Wesentliche in der bereits erwähnten Broschüre „Die positiven Effekte des Singens bei COPD“.
Die zentralen Aussagen lauten:
[Quelle: Dr. Anette Einzmann (2019). Die positiven Effekte des Singens bei COPD]
Nach diesem weiten Ausflug in die Theorie befaßt sich der nächste Blog-Beitrag mit der Datenlage zum Konzept „Singen für Lungen-Gesundheit“.
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