Leben zwischen Ein- und Ausatmen: Tai Chi und Qi Gong zur Stärkung der Lungenfunktion
Mit Methoden der Mind-Body-Medizin können Patienten zum Wohlergehen von Lunge und Psyche beitragen.
Die Frage des Buddha und das Geheimnis des Atems
Der Titel dieses Blog-Beitrags ("Leben zwischen Ein- und Ausatmen") und die Überschrift dieses Textabschnittes ("Die Frage des Buddha und das Geheimnis des Atems") klingen geheimnisvoller als gewohnt – dennoch folgt auch dieser Blog-Beitrag dem bewährten Schema von den verläßlichen Studienergebnissen über verständliche Informationen zur Bewertung der relevanten Erkenntnisse und schließlich zur Umsetzung im Patienten-Alltag.
Die Ausführungen liefern die sachlichen Hintergründe, was es mit der Frage des Buddha und dem Geheimnis des Atems auf sich hat. Nach der Lektüre des Beitrags wird Dir die Antwort des Buddha vermutlich – auch mit Blick auf die Studienergebnisse – sehr weise vorkommen.
Verläßliche Informationen zum Einsatz von Mind-Body-Medizin bei chronischen Lungenerkrankungen
Systematische Übersichtsarbeiten
Cochrane Review
Eifrige Blog-Leser wissen bereits, daß die Cochrane-Forscher sehr hohe qualitative Maßstäbe an die Bewertung von Studienergebnissen anlegen. Entsprechend verhalten fallen die Schlußfolgerungen eines Cochrane Reviews zu „Aktive Geist-Körper-Bewegungstherapien (AMBMT = Active Mind Body Movement Therapy) als Ergänzung zur oder im Vergleich zur pulmonalen Rehabilitation für Menschen mit chronisch obstruktiver Lungenerkrankung“ aus.
In Einfacher Sprache und in deutscher Übertragung lautet die Zusammenfassung etwa wie folgt:
„Angesichts der Qualität der verfügbaren Nachweise sind die Auswirkungen der AMBMT (z. B. Tai Chi und Qi Gong) … weiterhin nicht schlüssig…
Die verfügbaren Daten deuten darauf hin, dass beim Vergleich der AMBMT
im Vergleich zur PR allein eine größere Verbesserung der krankheitsspezifischen Lebensqualität durch die AMBMT beobachtet wurde, obwohl die AMBMT der PR in Bezug auf Dyspnoe (Atemnot) nicht überlegen war.
AMBMT in Kombination mit PR führte zu einer deutlichen Verbesserung der allgemeinen Lebensqualität. Im Vergleich zur PR allein führte die AMBMT in Verbindung mit der PR jedoch nicht zu einer weiteren Verbesserung der krankheitsspezifischen Lebensqualität…
Bevor jedoch endgültige Schlussfolgerungen gezogen werden können, sind künftige Forschungsstudien zum Vergleich von AMBMT und PR erforderlich, und diese sollten den Kriterien der PR-Leitlinien für die Gestaltung von Vergleichsinterventionen folgen. Die Interventionen sollten vorzugsweise von gut ausgebildeten Fachleuten durchgeführt werden mit umfassenden Kenntnissen in Atmungsphysiologie, Trainingswissenschaft und der Pathologie der COPD.“
Erkenntnis für Betroffene: Methoden der Mind-Body-Medizin (wie Tai Chi oder Qi Gong) allein oder im Rahmen der Pneumologischen Rehabilitation wirken sich günstig auf die krankheitsspezifische oder allgemeine Lebensqualität von Patienten mit COPD aus.
[Quelle: Gendron, L. M., Nyberg, A., Saey, D., Maltais, F., & Lacasse, Y. (2018). Active mind‐body movement therapies as an adjunct to or in comparison with pulmonary rehabilitation for people with chronic obstructive pulmonary disease. Cochrane Database of Systematic Reviews, (10).]
Weitere Systematische Übersichtsarbeiten
Li, Z., Liu, S., Wang, L., & Smith, L. (2020). Mind–body exercise for anxiety and depression in copd patients: a systematic review and meta-analysis. International journal of environmental research and public health, 17(1), 22.
Wang, K., Liu, S., Kong, Z., Zhang, Y., & Liu, J. (2019). Mind-body exercise (Wuqinxi) for patients with chronic obstructive pulmonary disease: a systematic review and meta-analysis of randomized controlled trials. International Journal of Environmental Research and Public Health, 16(1), 72.
Liu, S. J., Ren, Z., Wang, L., Wei, G. X., & Zou, L. (2018). Mind–body (Baduanjin) exercise prescription for chronic obstructive pulmonary disease: a systematic review with meta-analysis. International journal of environmental research and public health, 15(9), 1830.
Erkenntnis für Betroffene: Die unterschiedlichen Methoden der Mind-Body-Medizin zeigen positive Effekte auf das körperliche und psychische Wohlbefinden von Patienten mit COPD.
Interventions-Studien
BEAM-Studie
BEAM ist ein Akronym aus den Anfangsbuchstaben der englischen Begriffe „Breathing, Education, Awareness, Movement“ (Atmung, Schulung, Achtsamkeit, Bewegung). Diese vier Begriffe beschreiben die Inhalte der Intervention, die in der BEAM-Studie angewandt wurde.
Die US-amerikanischen Forscher untersuchten vor allem die Sicherheit und Durchführbarkeit von Tai Chi als eine potenzielle therapeutische Intervention, die in einzigartiger Weise die biopsychosozialen Aspekte der COPD anspricht.
Von der ersten Messung bei Interventionsbeginn bis zur Messung nach 12 Wochen, gab es Verbesserungen zugunsten der Tai Chi-Gruppe (im Vergleich zur reinen Schulungs-Gruppe) im Hinblick auf gesundheitsbezogene Lebensqualität, emotionales Befinden (vor allem Depressivität) und Müdigkeit (Fatigue).
Von Studienbeginn bis zur Messung nach 24 Wochen gab es eine Verbesserung zugunsten von Tai Chi bei Atemnot (Dyspnoe).
In der Tai-Chi-Gruppe zeigte die Erhaltungs-Schulung einen positiven Effekt auf Selbstwirksamkeit, Müdigkeit, 6-Minuten-Gehtest und Sit-to-Stand-Test.
Erkenntnis für Betroffene: Tai Chi als Mind-Body-Intervention ist machbar und sicher für Patienten mit mittelschwerer bis schwerer COPD. Es fördert die gesundheitsbezogene Lebensqualität, sowie den kognitiv-emotionalen und funktionellem Status bei Patienten mit COPD.
[Quelle: Yeh, G. Y., Litrownik, D., Wayne, P. M., Beach, D., Klings, E. S., Nieva, H. R., ... & Moy, M. L. (2020). BEAM study (Breathing, Education, Awareness, Movement): a randomised controlled feasibility trial of tai chi exercise in patients with COPD. BMJ Open Respiratory Research, 7(1), e000697.]
LEAP-Studie
Das Akronym LEAP steht für „Long-term Exercise After Pulmonary Rehabilitation” (Langzeit-Intervention nach Pneumologischer Rehabilitation).
Die US-amerikanische Forschergruppe stellte sich in dieser Studie einem drängenden Problem: Die Pneumologische Rehabilitation bei chronischen Lungenerkrankungen ist nachweislich sehr effektiv, die Aufrechterhaltung der körperlichen Aktivität danach jedoch problematisch. Die randomisierte, kontrollierte Interventionsstudie untersuchte deshalb die multidimensionale, biopsychosoziale Erfahrung von Patienten mit COPD, die an Tai Chi im Vergleich zum einfachen „Gruppengehen“ teilnahmen, um körperliche Aktivität nach der Lungenrehabilitation zu erleichtern.
Die Teilnehmer nannten als vorherrschende Themen Atemnot und damit verbundene Angst sowie Verlegenheit (Peinlichkeit, Scham). Diese Faktoren schränkten die körperliche Aktivität in beiden Gruppen am stärksten ein.
Sowohl in der Tai Chi-Gruppe als auch beim „Gruppen-Gehen“ berichteten die Teilnehmer über Verbesserungen der Energie und Ausdauer.
Die Tai-Chi-Teilnehmer teilten zusätzlich Verbesserungen der Atmung, Mobilität und Kapazität für tägliche Aktivitäten (ADL) mit. Diese wurden durch Körper- und Atembewusstsein, emotionale Kontrolle und Regulierung der Atmung sowie eine adaptive Umgestaltung der Atemnot erleichtert.
Erkenntnis für Betroffene: Tai Chi fördert das körperliche und geistige Wohlbefinden, indem es Angst und Verlegenheit (Scham) im Zusammenhang mit Atemnot verringert. Die vielschichtigen Eigenschaften von Tai Chi erleichtern eine kontinuierliche körperliche Aktivität und verbessern die Lebensqualität.
[Quelle: Moy, M. L., Wayne, P. M., Litrownik, D., Beach, D., Klings, E. S., Davis, R. B., ... & Yeh, G. Y. (2021). Long-term Exercise After Pulmonary Rehabilitation (LEAP): a pilot randomised controlled trial of Tai Chi in COPD. ERJ Open Research, 7(3).]
Mind-Body-Medizin bei COPD: Persönliche Bewertung der Erkenntnisse
Tai Chi und Qi Gong sind aus der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM) in den Methodenkoffer der westlichen Mind-Body-Medizin gelangt.
Nach dem chinesischen Wissen über die Lebenspflege ist die Selbstheilungskraft eine Grundfähigkeit des Körpers. Dabei ist die Lunge für die Abwehrkraft zuständig.
Außerdem werden der Atmung weitere Funktionen zugeschrieben, die dem ganzheitlich-umfassenden Ansatz der TCM entsprechen und in den Ohren von konventionellen „Schulmedizinern“ eher esoterisch klingen: Durch die Atmung wird das eingeatmete Qi (Lebensenergie), das nicht nur Sauerstoff, sondern auch kosmische Bestandteile enthält, zuerst mit dem aufsteigenden Nahrungs-Qi von der Milz in der Lunge gemischt. Die gesammelte Energie wird dann nach unten zum Herzen gebracht und durch den Kreislauf im gesamten Körper verteilt. Bei vollständiger Atmung kann die Lunge das Qi sogar bis in die Nieren leiten. So können die Nieren durch das Aufnehmen des Qi ihre Funktion beim Regeln des Flüssigkeitshaushalts wahrnehmen. Da das Lymph- und Immunsystem nach dem chinesischen Verständnis keine eigene Antriebskraft besitzt, hängt seine Funktion ebenfalls von Atmung und Bewegung ab. Alle diese physiologischen Vorgänge sind abhängig von der Kraft der Lunge und der Tiefe der Atmung.
Nach westlicher „schulmedizinischer“ Ansicht ist die Lunge vor allem für Atmung, Sauerstoffversorgung und Kohlendioxidabgabe zuständig.
Die ganzheitlich-umfassende östliche und die eher funktional-begrenzte westliche Auffassung von der Bedeutung der Atmung unterscheiden sich auf den ersten Blick. Inzwischen öffnet sich die westlich-orientierte sogenannte Schulmedizin jedoch zunehmend den komplementären Ansätzen, z. B. durch den Einsatz von Methoden der Mind-Body-Medizin.
Mind-Body-Interventionen im Alltag umsetzen
Patienten mit chronischen Lungenerkrankungen können von den Methoden der Mind-Body-Medizin nachweislich profitieren. Wenn niedrigschwellige Angebote (wie Tai Chi oder Qi Gong) beispielsweise im Rahmen der Pneumologischen Rehabilitation eingeübt werden, können sie später problemlos im Alltag eingebaut werden. Wünschenswert wäre ein Ausbau der Angebote, z. B. im Rahmen des Lungensports.
Es muß nicht immer eine klassische Psychotherapie sein, um mit niedrigschwelligen psychopneumologischen Angeboten die Lebensqualität und das emotionale Befinden nachhaltig zu verbessern…. und somit die Antwort des Buddha für Patienten mit chronischen Lungen-Erkrankungen zu befolgen und in den Alltag umzusetzen:
Buddha stellte eine Frage an seinen Schülerkreis: „Wie lang ist das Leben?“
Einer sagte: „Zwischen 40 und 50 Jahren.“
Ein anderer äußerte sich: „Wenn man Übungen macht, kann man sicher über 60 Jahre leben.“
Ein Dritter sprach: „Wenn man den ganzen Tag, von morgens bis abends, fleißig übt, dann kann man auch über 70 werden.“
Buddha blickte schweigend in die Menge und sagte: „Das Leben besteht nur zwischen Ein- und Ausatmen!“
LINKs (für Interessierte, die sich intensiver mit den Grundlagen von Tai Chi, Qi Gong, TCM… befassen wollen):
- Deutscher Dachverband für Qigong und Taijiquan e.V. - allgemeine Informationen
- Taiji Forum - praxistaugliche Informationen, z. B. eine verständliche Anleitung zur Übung „Die Atemblume“ über https://taiji-forum.de/qigong/die-atemblume/
- World Tai Chi Day - Website mit Unterseite zu Studien über Tai Chi und Qi Gong bei Lungenerkrankungen
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Beitragschronik
- Erstveröffentlichung: 28.4.2022
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