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Psychopneumologie Lexikon: I wie Imagination

Monika Tempel • Mai 05, 2022

Imagination als hilfreicher Behandlungsweg für Patienten mit chronischen Lungen-Erkrankungen



Menschen mit einer guten Vorstellungsgabe tun sich bei Imaginations-Übungen möglicherweise leichter. Im Grunde jedoch kann jeder Mensch den Zugang zu seiner inneren Bilderwelt finden. Gerade für Patienten mit chronischen Lungenerkrankungen eröffnet sich damit ein hilfreicher Behandlungsweg.

 


Imagination – was ist das eigentlich?

 

Imagination (lateinisch: imago = Bild) bedeutet Vorstellungskraft, bildhafte Phantasie. Sie umfaßt die psychische Fähigkeit, in der Außenrealität sinnlich nicht gegenwärtige Bilder, Orte, Personen oder Situationen im Geiste wahrzunehmen. Jeder Mensch besitzt im Grunde die Fähigkeit zur Imagination. Im Alltag setzen wir diese Fähigkeit (mehr oder weniger bewußt) ein, wenn wir uns an Szenen erinnern, wenn wir bestimmte Lösungsszenarien im Geiste durchspielen oder wenn wir (gewünschte oder gefürchtete) Ergebnisse innerlich vorwegnehmen.

 

Die Vorstellungskraft läßt sich trainieren, z. B. durch die Anleitung zu einer intensiven Bildbetrachtung. Dazu kann man ein Photo nehmen und es in allen Einzelheiten anschauen und beschreiben. Danach schließt man die Augen, vergegenwärtigt sich das Bild und beschreibt es so genau wie möglich.

 

Diese vorbereitende Übung macht bereits deutlich: Im Gegensatz zu Traumbildern, werden die Bilder im Rahmen einer Imagination willentlich hervorgerufen.

 

Zahlreiche psychotherapeutische Behandlungsverfahren setzen Imagination gezielt ein. Vor allem die dritte Welle der kognitiven Verhaltenstherapie (u. a. ACT = Acceptance-Commitment-Therapie und MBCT = Mindfulness Based Cognitive Therapy) verwendet sorgfältig gewählte und individuell an den jeweiligen Patienten angepaßte Imaginations-Übungen.

 


Was geschieht bei der Imagination im Gehirn?

 

Studien (v. a. mittels fMRT = funktionelle Kernspin-Tomographie) konnten nachweisen, daß während der Imagination im Gehirn die gleichen Prozesse ablaufen, wie wenn die untersuchte Person die vorgestellte Szene in der Realität erlebt. Die Aktivitäten in den zuständigen Gehirnbereichen scheinen nur etwas schwächer zu sein.

 

Wenn ich also in meiner Vorstellung an einen Ort gehe, an dem ich mich wohl fühle, z.B. an einen Meeresstrand, und wenn ich den Sand unter meinen Füßen, das Rauschen der Brandung, den Schrei der Möwen… wahrnehme, dann laufen in meinem Gehirn ähnliche Prozesse ab, als würde ich all diese Eindrücke wirklich an einem Meeresstrand erleben.

 

Dieses Bilderleben funktioniert leider auch genauso intensiv bei unangenehmen, bedrohlichen Bildern (z. B. von Atemnot und Angst). Die Vorstellungen haben unmittelbaren Einfluss darauf, was im Körper geschieht und wie beispielsweise Atemnot und Angst wahrgenommen werden.

 

Imaginations-Übungen im Rahmen einer psychopneumologischen Behandlung nutzen genau diese Zusammenhänge.

 


Was bewirkt Imagination?

 

Ein besonderer Vorteil der Imagination liegt in ihrer Flexibilität: Sie kann in zwei Richtungen genutzt werden:


  • Richtung Entspannung,
  • Richtung Aktivierung.


In Richtung Entspannung wird die Aktivität des Sympathikus heruntergefahren (= Teil des Nervensystems, der für den Alarmzustand unseres Körpers zuständig ist). Gleichzeitig wird der Parasympathikus aktiver (= Teil des Nervensystems, der für den Ruhezustand unseres Körpers zuständig ist).

 

In Richtung Aktivierung ist es genau umgekehrt.

 

Mittels Imagination kann man eine Kombination aus körperlicher Entspannung und geistiger Wachheit hervorrufen. Dieser Zustand ist für viele Menschen besonders erstrebenswert, denn sie wollen einerseits die innere Ruhe und zugleich Kraft und Energie.

 

Studienergebnisse aus dem Gebiet der Psycho-Neuro-Immunologie legen nahe, daß regelmäßig praktizierte Imaginations-Übungen das Immunsystem beeinflußen. Die Datenlage ist zwar noch dünn, jedoch durchaus ermutigend – auch für Patienten mit chronischen Lungenerkrankungen.

 


Imagination: Schritt für Schritt 

 

Werden Imaginationen im Rahmen von psychopneumologischen Interventionen eingesetzt, so sollte zu Beginn der Behandlung ein erfahrener Behandler die Übungen einleiten und begleiten. Von Anfang an sollten Patienten jedoch parallel eigenständig und regelmäßig (am besten täglich) üben. Mit der Zeit können sie dann unabhängig die individuell passenden Imaginationen bei Bedarf anwenden.

 


Schritt 1: Information


Gerade ein Verfahren wie Imagination, das im allgemeinen Bewußtsein häufig in der „Esoterik-Ecke“ verortet wird, muß dem Patienten vor der ersten Übung sachlich fundiert und verständlich erklärt werden. Kritische Nachfragen sollten inhaltlich begründet und ggf. mit Verweis auf Quellen beantwortet werden. Zum (Immer wieder)-Nachlesen können schriftliche Informationen angeboten werden.

 


Schritt 2: Einleitung


Ob die Imagination mit geschlossenen oder mit offenen Augen erfolgt, ist nicht entscheidend. Ein inneres Bild kann auch mit geöffneten Augen wahrgenommen werden. Das gilt für alle Imaginations-Übungen.

 

Mitunter erfolgt die Einleitung der Imagination „en passant“, wie nebenbei im Laufe eines Gesprächs. Die meisten Patienten profitieren allerdings von einer vorgeschalteten Grounding-Übung (Spüren der Unterlage oder des Bodens) und von einer kurzen Muskelentspannung.

 


Schritt 3: Vom Problem ausgehen


Patienten mit chronischen Lungenerkrankungen sind zunächst meist auf die unangenehmen und bedrohlichen Symptome ihrer Krankheit fixiert. Die Aufmerksamkeit kreist beispielsweise um Atemnot-Erfahrungen und damit verbundene Atemnot-Ängste. Häufig können sie nichts anderes als diese Symptome wahrnehmen.

 

Es ist wichtig, diesen Zustand im Sinne der Imaginations-Arbeit zu utilisieren (= nutzen). Man arbeitet dann beispielsweise mit der Atemnot-Erfahrung wie mit einem inneren Bild und leitet wie folgt an: „Wenn die Atemnot eine Farbe hätte – welche Farbe hätte sie? Wenn sie einen Geruch hätte, … ein Geräusch wäre,… eine Oberfläche hätte,…welchen Geruch, welchen Klang, welche Oberfläche hätte die Atemnot?“

 


Schritt 4: Zum heilsamen Bild führen


Beim nächsten Schritt geht es darum, sich eine Landschaft oder Szene vorzustellen, die als angenehm empfunden wird und frei von dem aktuellen Problem ist (z. B. die frische Brise am Meeresstrand oder die würzige Luft im Wald). Meist taucht spontan ein inneres Bild auf – mitunter ist es ein überraschendes Motiv und zumeist machen Patienten die Erfahrung, daß sie nicht lange nachdenken mußten. Diese Erfahrung stärkt die Selbstwirksamkeits-Erwartung und das Vertrauen in das Verfahren der Imagination.

 


Schritt 5: Das heilsame Bild wirken lassen


In der Imagination wird nun das heilsame Bild intensiv mit allen Sinnesqualitäten wahrgenommen:


  • Was sehe ich?
  • Was höre ich?
  • Was rieche ich?
  • Was schmecke ich?
  • Was spüre ich auf meiner Haut?


Wenn Patienten ihre inneren Bilder immer genauer erforschen, verbessern sie ihre Wahrnehmung von Körper und Emotionen. Sie lernen zunächst in der Imagination, körperliche Empfindungen, Gedanken und Gefühle besser zu unterscheiden und besser zu steuern. Dieses in der Imagination erprobte Verhalten verändert nach und nach die Problem-Erfahrung. So erhält das Problem (z. B. die Atemnot) auch im Alltag einen anderen Stellenwert.

 


Probieren geht über Studieren!

 

Eigentlich gilt für alle psychopneumologischen Verfahren die Devise: Lesen bildet – Tun verändert!

 

In besonderem Maße gilt das für ein Verfahren wie die Imagination. Hier kommt es auf persönliches Engagement und Üben an:


  • regelmäßig (am besten täglich),
  • unabhängig von äußeren Umständen (Lust und Laune),
  • ausdauernd (am besten als Alltags-Routine).

 

Wer an dieser Stelle fest entschlossen ist, die Methode Imagination zu erproben, findet im Service-Bereich die schriftliche Anleitung für einen „Strandspaziergang“ zum kostenlosen Download.

 

Also: Entspannt hinsetzen oder hinlegen – sich dem Reiseführer überlassen – in das innere Bild eintauchen … und durchatmen …

 


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Beitragschronik


  • Erstveröffentlichung: Auf der Website „Sauerstoff und Sinn“


  • Aktualisierung: 5.5.2022

 


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