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Psychopneumologie Lexikon: A wie Atemnot-Ängste

Monika Tempel • Jan. 16, 2022

Angst bei Atemnot und Angst vor Atemnot: Die Vielfalt der Atemnot-Ängste ist eine Herausforderung für die Psychopneumologie.



Von Atemnot reden bedeutet: von Angst reden.

 

Diese Erkenntnis aus dem ersten Eintrag im Psychopneumologie-Lexikon ist die Grundlage für diesen Beitrag zu dem vielschichtigen Phänomen „Atemnot-Ängste.“  

 


Angst bei Atemnot

 

Angst bei Atemnot ist eine normale physiologische Reaktion – ebenso normal wie beispielsweise die begleitende Tachykardie (erhöhter Herzfrequenz) oder Schwitzen oder Schwindel.


Angst bei Atemnot ist ein wichtiges Alarmsignal für die vitale Bedrohungslage und wird deshalb häufig als „Todesangst“ beschrieben. Sie wird vermutlich vor allem durch die Atemnot-Qualität „Lufthunger“ ausgelöst. Sehr rasch entwickelt bei akuten Atemnot-Anfällen die sogenannte Atemnot-Angst-Spirale eine bedrohliche Dynamik. Den Einstieg in die Spirale bildet die Atemnot.


Die Emotion „Angst“ läßt sich bei Atemnot nicht willentlich ausschalten. Aus dieser automatischen psycho-physiologischen Verknüpfung ergeben sich die Schwierigkeiten, angemessene psychopneumologische Behandlungsangebote für Angst bei Atemnot zu entwickeln.



Angst vor Atemnot

 

Angst vor Atemnot entwickelt sich bei Patienten mit chronischen Lungenerkrankungen meist nach Atemnot-Anfällen, bei denen sie sich hilflos ausgeliefert fühlten und die sie als vital bedrohlich erlebt haben.


Angst vor Atemnot führt ebenso wie Angst bei Atemnot häufig zu einem Teufelskreis. Der Einstieg in die Angst-Atemnot-Spirale erfolgt hierbei über die Angst.



Hintergrundwissen zur Angst vor Atemnot

 

Angst vor Atemnot kann zu einem negativ gefärbten Gefühlszustand führen, der die Bereitschaft zur Wahrnehmung atemnotbezogener Symptome erhöht. Diese Alarmbereitschaft wiederum kann Panikattacken auslösen.


Zudem empfinden COPD-Patienten, die lebensbedrohliche Atemnotzustände erleben, ein enormes Ausmaß an Streß.


Eine gesteigerte Empfindlichkeit für Atemveränderungen kann außerdem zu einer Vermeidung von Aktivitäten führen, die Atemnot hervorrufen. Somit entsteht ein Teufelskreis, der durch eine Zunahme der Atemnot, einer Verschlechterung der körperlichen Leistungsfähigkeit und genereller Vermeidung körperlicher Aktivität geprägt ist (Dekonditionierungs-Spirale).



Kann man Atemnot im Gehirn sichtbar machen?


Atemnot kann man nicht nur von außen an Körperreaktionen erkennen oder durch Fragebögen messen. Auch durch Untersuchungen des Gehirns läßt sich Atemnot sichtbar machen. Mittels fMRT (funktionelle Magnet-Resonanz-Tomographie = funktionelle Kernspin-Tomographie) kann man dem Gehirn „beim Arbeiten“ zuschauen – z. B. bei der Schwerstarbeit, die es bei Atemnot leisten muß. Beteiligt sind bei Atemnot vor allem die automatischen Zentren im Hirnstamm (Formatio reticularis), das Zwischenhirn und die Großhirnrinde.

 

Eine zentrale Rolle bei der Atemnot-Verarbeitung nimmt ein verstecktes Areal der Großhirnrinde ein: die Inselrinde (Cortex insularis). Sie ist unter anderem an der emotionalen (gefühlsmäßigen) Bewertung von Empfindungen beteiligt. Als wichtiger Projektionsort der Signale aus den inneren Organen empfängt sie viele Informationen, darunter auch solche über Atemnot. Die Inselrinde ist darüber hinaus reziprok (wechselseitig) mit dem Zwischenhirn verschaltet, vor allem mit dem Thalamus (Hauptteil des Zwischenhirns) und der Amygdala (Mandelkern im Zwischenhirn). Durch diese Verschaltung nimmt sie – direkt und indirekt – Einfluß auf das Gleichgewicht und auf Emotionen.

 

Es ist also nicht verwunderlich, daß Forscher bei Atemnot-Studien mit fMRT ihr besonderes Augenmerk auf die Aktivitäten und Wechselwirkungen von Inselrinde und Zwischenhirn richten. Und sie werden nicht enttäuscht: immer mehr Untersuchungen verweisen auf eine zentrale Bedeutung dieser Hirnareale bei der Atemnot-Erfahrung.



Wodurch wird Atemnot chronisch?


Es gibt deutliche Hinweise, daß sich bei Patienten mit chronischer Atemnot Strukturen im Gehirn verändern. So scheint die graue Substanz (Ansammlung von Nervenzell-Körpern) in den Bereichen des Gehirns vermindert zu sein, die u. a. Atemnot verarbeiten.

 

Eine Untersuchung zeigte, dass bei COPD-Patienten mit chronischer Atemnot das Volumen der grauen Substanz in bestimmten Hirnbereichen verringert war, nämlich im vorderen, mittleren und hinteren cingulären Cortex (Gürtelwindung). Dieser spielt beispielsweise für autonome Funktionen wie Blutdruck und Herzschlag eine Rolle.


Auch Bereiche des Zwischenhirns waren vom Substanzverlust betroffen: z. B. der Hippocampus (Seepferdchen), der hauptsächlich für Gedächtnis und Lernen zuständig ist, und die Amygdala (Mandelkern), die an der Steuerung von Angst beteiligt ist.


Je länger die COPD-Erkrankung und die chronische Atemnot bereits andauerten, umso reduzierter war die graue Substanz. Diese Patienten zeigten eine größere Angst vor Atemnot und körperlicher Aktivität. Dadurch wird die Spirale aus Atemnot – Angst vor Atemnot – verminderter Aktivität – stärkerer Atemnot – größerer Angst vor Atemnot – Inaktivität … verstärkt. Es steigt zudem die Gefahr, daß die Strukturveränderungen im Gehirn bestehen bleiben und die Atemnot chronisch wird. 



Was Kernspintomographen enthüllen


Um besser zu verstehen, weshalb manche Patienten mit chronischen Lungenerkrankungen Atemnot aus Angst vor körperlicher Aktivität entwickeln, folgen Forscher seit Jahren einer Spur, die bereits in den Untersuchungen zur Schmerz-Chronifizierung erfolgreich beschritten wurde.


Bereits die Erwartung von Atemnot (experimentell erzeugt durch erhöhten Atemwiderstand) aktiviert im Gehirn ein Netzwerk aus Arealen. Die aktivierten Areale des Netzwerkes sind beteiligt an der Atemnot-Wahrnehmung und Atemnot-Verarbeitung.


Ein besonders aufschlußreicher Befund in diesem Zusammenhang: Die aktivierten Bereiche des „Gefühls-Gehirns“ (= Limbisches System) spiegeln die vorweggenommene Angst vor der Atemnot exakt wider.


Doch nicht nur die reale Erwartung von erhöhtem Atemwiderstand aktiviert das Gehirn. Schon die bloße gedankliche Vorwegnahme von Atemnot durch vorgegebene Begriffe oder Szenen setzt das Atemnot-Netzwerk im Gehirn in Aktion.


Im Klartext: Werden einem Patienten mit chronischer Lungenerkrankung bei einem Experiment im Kernspintomographen Szenen durch Vorlesen vorgegeben – wie beispielsweise „Treppensteigen unter Zeitdruck“ oder „den Bus rasch noch erreichen wollen“ – so steht der Grad der von ihm empfundenen Atemnot (gemessen mit einer Visuellen Analog-Skala) in Beziehung zur Aktivierung seines Atemnot-Netzwerkes im Gehirn.



Was könnte hinter der erhöhten „Atemnot-Empfindlichkeit“ stecken?


Die Forscher interpretieren die Befunde folgendermaßen:


  • Erstens:

Patienten mit chronischen Lungenerkrankungen machen in einer bestimmten Alltags-Situation (z. B. zu rasches Treppensteigen) eine unangenehme, ängstigende Atemnot-Erfahrung.


  • Zweitens:

Im Gehirn kommt es zu einer Verknüpfung zwischen dem Auslöse-Reiz „Treppe“ (= Stimulus) und der unangenehmen Atemnot-Erfahrung (= Reaktion). Die gelernte Verknüpfung macht in der Folge aus jeder Treppe einen „prior“ (= gelernte vorbelastete Assoziation).


  • Drittens:

Dieser „prior“ beeinflußt bereits bei der bildlichen Vorstellung dieser Situation die Atemnot-Wahrnehmung – z. B. wenn ein Schlüsselwort (wie Treppensteigen) erwähnt wird, obwohl im Augenblick gar keine Treppe zu besteigen ist.



Was bietet Aussicht auf Besserung?


Wenn „priors“ über das Gehirn die Angst vor Atemnot (z. B. durch  körperliche Aktivität) hervorrufen, dann kann man über diese „priors“ via Gehirn möglicherweise diese Form von Atemnot-Angst wieder vertreiben – oder wenigstens mildern?


Diesen verheißungsvollen Ansatz unterstützen jedenfalls fMRT-Studien zu den Effekten von Pneumologischer Rehabilitation (PR).


Pneumologische Rehabilitation verändert nämlich u. a. die Gehirnaktivierung in den Arealen, die für die Atemnot bei Angst vor körperlicher Aktivität verantwortlich sind. Durch PR-Interventionen, die auf die individuellen „priors“ zielen, lassen sich offensichtlich die gelernten Verknüpfungen im Gehirn „lockern“ und die Atemnot-Wahrnehmung beeinflußen.


Damit ist ein psychopneumologischer Hintergrund für das dosierte Training der Aktivitäten des täglichen Lebens (engl. activities of daily living = ADL) ein wenig einsichtiger geworden.



Sonstige Atemnot-Ängste

 

Die Erfahrung des Kontrollverlustes bei Atemnot ist bei Patienten mit chronischen Lungenerkrankungen nicht selten mit Begleitängsten verknüpft. So berichten sie beispielsweise von der Angst vor Inkontinenz bei Atemnot oder von der Angst vor „Sauerstoffmangel“, etwa beim Wechsel von nicht-invasiver Beatmung (NIV) auf Langzeitsauerstoff-Therapie (LTOT) am Morgen oder nach dem Mittagsschlaf.


Diese Begleitängste im Rahmen der Angst vor Atemnot müssen individuell erhoben und ebenso individuell behandelt werden.



Atemnot-Ängste der Angehörigen

 

Atemnot ist ansteckend. Sie führt nicht nur bei Betroffenen, sondern auch bei Miterlebenden zu einer weitgehend automatischen Reaktion.

Das Miterleben von Atemnot aktiviert bei allen Anwesenden die Gehirnareale für Angstwahrnehmung und Angstverarbeitung.

 

Diese Erkenntnisse zur Atemnot-Ansteckung müssen psychopneumologische Interventionen berücksichtigen, wenn sie Angehörige in das Atemnot-Management einbeziehen.


Angst vor Atemnot kann sich ebenfalls auf Angehörige übertragen und auch bei ihnen Vermeidungstendenzen begünstigen.



Atemnot-Ängste: Relevanz für die Psychopneumologie

 

Die vielgestaltigen Atemnot-Ängste sind ein lohnendes Einsatzgebiet für die Grundlagenforschung und für die Praxis der Psychopneumologie.


Beim praktischen Einsatz bewährt sich im Hinblick auf das Phänomen „Atemnot-Ängste“ ein systematisches Vorgehen:


  • Screening (Suchtestung/Siebtestung auf Ängste, z. B. mittels  Hospital Anxiety and Depression Scale-Subscale Anxiety = HADS-A, Generalized Anxiety Disorder 7-Item Scale = GAD-7),
  • gezielte Angst-Diagnostik (mit krankheitsspezifischen Testinstrumenten, wie Angst-Fragebogen für Respiratorische Erkrankungen = AIR, COPD-Angst-Fragebogen = CAF, Fragebogen zu angstbezogenen Kognitionen = ACQ, Fragebogen zur Angst vor körperlichen Symptomen = BSQ),
  • individuelle Interventionen.



Atemnot-Ängste: Psychopneumologische Behandlungsansätze

 

Für die Behandlung von Atemnot-Ängsten können alle Angebote genutzt werden, die im Lexikon-Eintrag „A wie Atemnot“ vorgestellt werden.


Zusätzlich kommen Interventionen infrage, die speziell auf Patienten mit chronischen Lungenerkrankungen und Atemnot-Ängsten zugeschnitten sind.


Leider ist das diesbezügliche Angebot noch sehr überschaubar. Erfolgversprechend sind:


  • Krankheitsspezifische Interventionen mit CBT-Elementen (Kognitive Verhaltenstherapie im analogen oder digitalen Setting),
  • hypnotherapeutische Interventionen,
  • achtsamkeitsbasierte Interventionen.

 

Mit Spannung erwartet werden die Ergebnisse der TANDEM-Studie – nicht nur im Hinblick auf Effekte bei Atemnot-Ängsten.

 


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  • Mit TANDEM der Depression und Angst bei COPD davonradeln? – Chronik eines Studienprojektes




Beitragschronik:


  • Erstveröffentlichung: 16.1.2022



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