Blog-Layout

Psychopneumologie Lexikon: A wie Atemnot

Monika Tempel • Jan. 02, 2022

Ursachen, Wahrnehmung und Auswirkungen von Atemnot können sehr unterschiedlich sein. Alle Faktoren haben Bedeutung für die Psychopneumologie.



Atemnot – was ist das eigentlich?

 

Nach der Definition der American Thoracic Society ist Atemnot „die subjektive Erfahrung von Atembeschwerden, bestehend aus qualitativ unterschiedlichen Empfindungen wechselnder Intensität. Physiologische, psychologische, soziale und Umweltfaktoren wirken zusammen. Atemnot kann weitere körperliche Reaktionen und Verhaltensreaktionen hervorrufen.“

 

Maßstab für die Bewertung der Atemnot ist (wie bei der Schmerz-Erfassung) die Erfahrung der Person, die unter Atemnot leidet.



Atemnot-Formen und Schweregrade

 

Atemnot kann akut (plötzlich) auftreten oder chronisch (dauerhaft) vorhanden sein.

 

Chronische Atemnot macht sich zunächst meist nur bei körperlicher oder seelischer Belastung bemerkbar (Belastungsdyspnoe).

 

Wenn eine zugrundeliegende Erkrankung jedoch fortschreitet, tritt die Atemnot im Verlauf auch bei alltäglichen Beschäftigungen (wie Essen, Sprechen) oder sogar im Ruhezustand auf (Ruhedyspnoe).

 

Im klinischen Alltag ist es wichtig, den Schweregrad einer Atemnot möglichst genau zu erfassen. Dazu gibt es verschiedene Einteilungsschemata (Skalen):

 

1. BORG-Skala (häufiges Meßinstrument für die Atemnot bei Belastungstests),

 

2. mMRC-Skala (Meßinstrument für die Schweregrad-Einteilung der COPD).

 

Atemnot ist eines der häufigsten und gleichzeitig eines der am wenigsten verstandenen klinischen Symptome. Jeder Patient empfindet und verarbeitet Atemnot in höchst unterschiedlicher Weise. Der durch Atemnot verursachte Krankheitswert kann also nicht einheitlich definiert werden und wird durch die Messung des Schweregrades nur unzureichend erfaßt.

 

Vor allem für die Psychopneumologie lohnt die Auseinandersetzung mit Atemnot-Modellen, die mehrere Dimensionen berücksichtigen.



Multidimensionales Atemnot-Modell

 

Einen gewissen Fortschritt bei der differenzierten Betrachtung der Atemnot brachte die Orientierung an erprobten Konzepten der Schmerz-Forschung. Neben der Intensität werden der Grad des Mißempfindens (Unangenehmheit) und die gefühlsmäßige Reaktion darauf berücksichtigt. Hinzu kommen außerdem Angst, Depression und andere psychologische Faktoren, die durch die Symptome der Atemnot im Leben der Patienten ausgelöst werden.

 

  • Der Grad des Mißempfindens (Unangenehmheit) heißt sensorische Dimension.

 

  • Die gefühlsmäßige (emotionale) Reaktion wird als affektive Dimension bezeichnet.

 

Die einzelnen Dimensionen lassen sich noch weiter differenzieren und erforschen. Allerdings sind Experimente mit Atemnot wesentlich schwieriger durchzuführen als Schmerz-Studien. Dennoch ist die Orientierung an den mehrdimensionalen Konzepten der Schmerzforschung hilfreich und hat bisher ermutigende Ergebnisse erbracht.

 

Das Multidimensionale Dyspnoe-Profil (MDP) ist ein bewährtes vielschichtiges Atemnot-Modell und unterscheidet zwischen:

 

  • primären sensorischen Komponenten (Intensität und Qualität),
  • affektiven Dimensionen (unmittelbare Mißempfindung und emotionale Reaktion),
  • kognitiven Antworten (unmittelbare und langfristige Verhaltensänderung).

 

Bei den sensorischen Qualitäten unterscheidet man:

  • Lufthunger (air hunger),
  • Exzessive Atemarbeit (work/effort),
  • Engegefühl/Brustenge (tightness).

 

Diese subjektive Unterteilung steht in Zusammenhang mit Signalen von unterschiedlichen Afferenzen (Informationszuflüssen).

 

Atemnot-Erfahrung „Lufthunger“

 

„Lufthunger“ ist die bewußte Wahrnehmung eines fundamentalen biologischen Atemdranges.

 

Sie ist nicht abhängig vom willentlichen Atemantrieb (Kortex), sondern steht im Zusammenhang mit dem automatischen Atemantrieb (Hirnstamm).

 

„Lufthunger“ entsteht durch ein Mißverhältnis von Atemantrieb und Ventilation (z. B. bei Respiratorischer Globalinsuffizienz aufgrund einer fortgeschrittenen COPD).

 

Die Empfindung „Lufthunger“ läßt sich durch Hyperkapnie (erhöhten Kohlenstoffdioxid-Gehalt im Blut) provozieren und ist wahrscheinlich identisch mit der häufig von Patienten beschriebenen „ungenügenden Inspiration“ (z. B. bei dynamischer Überblähung).

 

Diese Empfindung ist nicht spezifisch für eine Krankheit oder einen Stimulus.

 

Bei „Lufthunger“ sind dieselben Gehirnzentren aktiv wie bei Schmerz, Durst und Hunger – Empfindungen, die allesamt vitale Gefahren signalisieren.

 

Atemnot-Erfahrung: Exzessive Atemarbeit

 

„Exzessive Atemarbeit“ beschreibt die bewußte Wahrnehmung der willentlichen zentralen Aktivierung der peripheren und respiratorischen Muskulatur.

 

Dies geschieht mit Hilfe eines internen Feedbacks (Rückmeldung) vom Hirnstamm an den sensorischen Kortex nach Beginn der Belastung.

 

Die unangenehme Erfahrung von „Exzessiver Atemarbeit“ wird üblicherweise von Patienten mit Asthma und COPD bzw. bei erschöpfter Atempumpe berichtet.

 

Atemnot-Erfahrung: Engegefühl/Brustenge

 

„Engegefühl/Brustenge“ wird in der Regel aufgrund afferenter Signale bei Verengung der Bronchien erlebt.

 

Es ist beispielsweise die dominante Erfahrung in frühen Stadien eines Asthmaanfalls, der im weiteren Verlauf auch zu verstärkter „Atemarbeit“ und „Lufthunger“ führt.

 

Mechanische Beatmung kann die Erfahrung von „Brustenge“ nicht mindern, wohl aber die nachfolgend erhöhte „Atemarbeit“.



Atemnot-Konzept: total dyspnea

 

Vergleichbar dem Konzept des „total pain“ (Saunders, ca. 1960) öffnet das Modell der „total dyspnea“ den Blick auf die Verflechtungen zwischen den verschiedenen Dimensionen der Atemnot und den

 

  • körperlichen,
  • psychologischen,
  • sozialen,
  • spirituellen Aspekten im Leben des Patienten.

 

Eine angemessene Erfassung der individuellen Atemnot muß folgende Kategorien

berücksichtigen:

 

  • sensorische Erfahrung,
  • affektiven Streß,
  • Symptombelastung/Auswirkung im Alltag.

 

Die sensorische Intensität der Atemnot wird am einfachsten mit einer visuellen oder numerischen Analogskala (z. B. BORG-Skala) gemessen.

 

Die multidimensionalen Aspekte können besser mit einem multidimensionalen Dyspnoe-Profil (MDP) oder mit krankheitsspezifischen Lebensqualitäts-Fragebögen (z. B. St. George´s Respiratory Questionnaire = SGRQ oder Severe Respiratory Insufficiency Questionnaire = SRI) erfaßt werden.

 

Der COPD-Assessment-Test (CAT) bewährt sich als praxistaugliches Erfassungsinstrument.



Atemnot: Relevanz für die Psychopneumologie

 

Von Atemnot reden bedeutet: von Angst reden. Atemnot und Angst erscheinen auf den ersten Blick wie Siamesische Zwillinge. Bei genauerem Hinsehen enthüllen sich vielfältige psychopneumologische Zusammenhänge.

 

Die Wahrnehmung von Atemnot differiert erheblich. Für diese Schwankungsbreite scheinen zum einen Unterschiede in der neuronalen Verarbeitung verantwortlich zu sein.

 

Auch psychische Einflußfaktoren (v. a. Emotionen) spielen – laut ersten Studien – eine bedeutsame Rolle bei der Wahrnehmung von Atemnot:

 

  • Negative Emotionen verstärken die Atemnot-Wahrnehmung.
  • Positive Emotionen vermindern die Atemnot-Wahrnehmung (insbesondere deren empfundene Unangenehmheit).

 

Lernprozesse scheinen ebenfalls bei der Wahrnehmung von Atemnot beteiligt zu sein:

 

  • Atemnot-Symptome lassen sich durch Klassische Konditionierung provozieren (Koppelung eines neutralen an einen unbedingten Reiz).

 

Schließlich scheint (trotz teilweise widersprüchlicher Studienbefunde) auch die Aufmerksamkeits-Fokussierung die Atemnot-Wahrnehmung zu beeinflussen:

 

  • Ablenkung vom Atemnot-Reiz (z. B. durch Musik während Belastung) reduziert die wahrgenommene Atemnot.



Atemnot: Psychopneumologische Behandlungsansätze

 

Alle aufgeführten Einflußfaktoren können durch verhaltensmedizinische Maßnahmen günstig beeinflußt werden. Damit stellt die Psychopneumologie eine wirkungsvolle Ergänzung zur medikamentösen und physiotherapeutischen Behandlung dar.

 

Im Rahmen von Patienten-Schulungen sind verhaltensmedizinische Interventionen beispielsweise im Pneumologischen Rehabilitations-Bereich fest etabliert.

 

Man unterscheidet Interventionen aus folgenden Bereichen:

 

  • (Selbst-)Wahrnehmung
  • Körpertherapie
  • Aufmerksamkeit/Achtsamkeit
  • Psychotherapie

 

(Selbst-)Wahrnehmungs-orientierte Interventionen dienen einer verbesserten Symptom-Wahrnehmung bzw. Symptom-Unterscheidung (z. B. im Rahmen von Selbstmanagement-Programmen für Asthma und COPD).

 

Ein wesentlicher Bestandteil ist die individuelle Differenzierung zwischen Atemsymptomen und psychischen Symptomen (z. B. Angst, depressive Stimmung). Dies führt zu einer angemesseneren Einschätzung der Atemfunktion. Durch die digitalen Medien (Tablet, Smartphone) eröffnen sich Perspektiven für nachhaltige internet-basierte Selbstmanagement-Programme.

 

Aus dem Bereich der Körpertherapie hat sich die Kombination von Lungensport mit Atem/Entspannungstechniken als vorteilhaft erwiesen. Neben den allgemein gesundheitsfördernden Effekten und dem positiven Einfluß auf die Lebensqualität läßt sich durch ein angemessenes Training die Auslöseschwelle für Atemnot erhöhen. In der Folge steigt die Akzeptanz für körperliche Aktivität. Damit wird der Abwärtstrend der „Dekonditionierungs-Spirale“ aufgehalten.

 

Im Gegensatz zur Schulung der (Selbst-)Wahrnehmung kann in anderen Fällen eine gezielte Aufmerksamkeits-Fokussierung hilfreich sein. Durch erfolgreiche Lenkung der Aufmerksamkeit können beispielsweise untrainierte Patienten eine wenig starke Atemnot-Wahrnehmung bei Belastung erfahren. Dies wiederum verstärkt ihre Selbstwirksamkeits-Erwartung, ein wesentliches Fundament für Motivation und Adhärenz.

 

Vielversprechend sind die Ergebnisse von Achtsamkeitsbasierten Interventionen im Bereich der Psychopneumologie.

 

Patienten mit chronischen Lungenerkrankungen weisen eine hohe Komorbidität für Angststörungen und Depressionen auf.

 

Bei klinisch relevanten psychischen Störungen sind Interventionen aus dem Repertoire der Psychotherapie indiziert, v. a. zur Stimmungsstabilisierung.

 

Negative Emotionen (wie ängstliche oder depressive Stimmung) führen nämlich zu einer verstärkten Atemnot-Wahrnehmung. Sie können durch Kognitive Verhaltenstherapie (CBT) günstig beeinflußt werden.

 

Auch die Unterscheidung physiologischer Reaktionen bei Angstattacken (wie u. a. Hyperventilation und Atemnot) von Symptomen einer exazerbations-bedingten Atemnot hilft zur Unterbrechung des Atemnot-Angst-Teufelskreises.

 

Leider sind komorbide psychische Störungen bei Lungenkranken häufig unterdiagnostiziert und untertherapiert. Im Praxisalltag bleibt oft wenig Raum und Zeit für diese Thematik. Hier können eine psychopneumologisch-orientierte Gesprächsführung und effektive Screening-Instrumente Abhilfe schaffen.

 


Themenverwandte Artikel

 



 

 

Beitragschronik:


  • Erstveröffentlichung: auf der Website "Sauerstoff und Sinn"


  • Aktualisierung: 2.1.2022



Deine Fragen und Anmerkungen, Deine Kritik und Deine Themenwünsche sind herzlich willkommen!

Kontaktformular

Patientin mit Sauerstoffsonde
von Monika Tempel 23 Apr., 2024
Was lange währt: „Pflegewissen Pneumologie“ ist im Springer-Verlag in der 2. Auflage erschienen.
Brille auf Zeitungen abgelegt
von Monika Tempel 20 Feb., 2024
Warum das Themenheft „Lunge und Psyche“ perfekt zum diesjährigen Motto „Pneumologie – sektorenübergreifend, modern und lebendig“ paßt.
Bibliothek mit rotem Buchstabe Z
von Monika Tempel 20 Dez., 2022
Der letzte Buchstabe im Alphabet steht im Psychopneumologie Lexikon nicht für ein Ende, sondern für einen Anfang: „Zukunftsmusik“ für COPD, IPF, AATM & Co.
Bibliothek mit rotem Buchstabe W
von Monika Tempel 13 Dez., 2022
Wieder atmen lernen! Das gelingt manchmal nur in einem langwierigen Prozeß und dank interprofessioneller Begleitung.
Blaue Sportschuhe
von Monika Tempel 06 Dez., 2022
„Emsige Biene“ oder „Stubenhocker“? 40 Aussagen zum Nachdenken und Umdenken.
Glühbirne mit sechs Mindmap-Blasen
von Monika Tempel 29 Nov., 2022
Wie Mikro-Training einen Beitrag zu einer Pneumologischen Rehabilitation der Zukunft leisten könnte.
Bibliothek mit rotem Buchstabe V
von Monika Tempel 22 Nov., 2022
Welche Schlüsse zieht die Verhaltensmedizin auf der Grundlage des biopsychosozialen Modells für den Umgang mit chronischen Lungen-Erkrankungen?
Hände mit YES und NO
von Monika Tempel 08 Nov., 2022
Was geschieht, wenn Dein Fokus darauf liegt, was Du anders machst, und nicht darauf, Deine Symptome zu verringern?
Bibliothek mit rotem Buchstabe U
von Monika Tempel 08 Nov., 2022
Wie umgehen mit dem unausweichlichen Thema „Ungewissheit“ bei chronischen Lungen-Erkrankungen?
Welt-COPD-Tag 2022 Logo
von Monika Tempel 01 Nov., 2022
Das Motto des Welt-COPD-Tages 2022 lenkt den Blick auch auf ein heikles Thema.
Weitere Beiträge
Share by: