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Psychopneumologie Lexikon: H wie Hyperventilations-Syndrom

Monika Tempel • März 29, 2022

Die besten „Therapeuten“ beim Hyperventilations-Syndrom sind Wissen, Ruhe und Gelassenheit.



Das Hyperventilations-Syndrom – eine sogenannte Funktionelle Störung

 

Das Hyperventilations-Syndrom ist eine psychisch bedingte, mit Angstzuständen und Atemnot verknüpfte vertiefte Atmung. Die meisten Betroffenen landen mit der Symptomatik in einer Akut-Sprechstunde oder sogar in einer Notfall-Ambulanz. Sie befürchten eine lebensbedrohliche körperliche Funktionsstörung, da das Hyperventilations-Syndrom oft von allgemeinen körperlichen Symptomen begleitet wird.

 

Häufig sind junge Frauen betroffen. Generell können aber beide Geschlechter aller Altersstufen ein Hyperventilations-Syndrom entwickeln.

 

Manchmal wird es durch heftige Emotionen oder psychisch belastende Ereignisse hervorgerufen.

 

Das Hyperventilations-Syndrom unterscheidet sich von einer Panikstörung, obwohl beide Erkrankungen Überlappungen zeigen. Etwa die Hälfte aller Patienten mit Panikstörung leiden unter Hyperventilation, und bei einem Viertel aller Patienten mit Hyperventilationssyndrom liegt eine Panikstörung vor.

 


Das Hyperventilations-Syndrom tritt in 2 Formen auf:

 

  • Die akute Form ist leichter zu erkennen als die chronische Form.
  • Chronische Hyperventilation ist häufiger als akute Hyperventilation.

 


Akutes Hyperventilations-Syndrom

 

Im akuten Hyperventilationsanfall haben Patienten manchmal das Gefühl zu ersticken. Als Begleitsymptome sind folgende Beschwerden möglich:


  • starke körperliche Unruhe,
  • panische Angst,
  • Brustschmerzen,
  • Mißempfindungen (= Parästhesien, vor allem an den Gliedmaßen und rund um die Lippen),
  • Versteifung von Fingern und Armen (= periphere Tetanie), verursacht durch ein Ungleichgewicht von Phosphat- und Calciumgehalt im Blut aufgrund der verstärkten Atmung,
  • Ohnmachtsgefühle oder Ohnmachten (= Synkopen).

 

Die körperliche Untersuchung (Röntgen, EKG), insbesondere die Lungenuntersuchung (Pulsoxymetrie), ergibt unauffällige Befunde.

 


Chronisches Hyperventilations-Syndrom

 

Bei Patienten mit chronischer Hyperventilation sind die Symptome weitaus schwächer ausgeprägt und werden oft übersehen. Diese Patienten seufzen tief und oft und zeigen weitere unspezifische, häufig wechselnde körperliche Beschwerden.

 

Das Hyperventilations-Syndrom ist eine Ausschlußdiagnose. Die Herausforderung besteht darin, die weiterführende Diagnostik zum Ausschluß schwererer Erkrankungen wohlüberlegt zu wählen und angemessen zu begrenzen.

 

Nur in Ausnahmefällen ist eine Blutgasanalyse (= BGA) erforderlich, wenn beispielsweise eine metabolische Azidose ausgeschlossen werden soll.

 

Gelegentlich kann die akute Hyperventilation klinisch nicht von einer akuten Lungenarterienembolie unterschieden werden. Dann erfolgt zum Ausschluß dieser ernsten Erkrankung eine weitere Diagnostik (z. B. D-Dimere, Ventilations-/Perfusionsszintigraphie, CT-Angiographie).

 


Therapie des Hyperventilations-Syndroms

 

Die wichtigste Therapiemaßnahme bei Hyperventilations-Syndrom besteht in der einfühlsamen Aufklärung und Beruhigung des Patienten.


Manche Ärzte empfehlen eine Patientenschulung mit Elementen der Atemtherapie (Kollaboratives Versorgungs-Modell).


Bei den meisten Patienten ist eine Behandlung der zugrunde liegenden psychischen Problematik erforderlich. Diese Behandlung besteht in der Regel aus einer Kombination von psychotherapeutischen Verfahren.

 


Psychopneumologische Akut-Interventionen bei Hyperventilations-Syndrom

 

Aufgrund der mitunter dramatischen körperlichen Symptome (vor allem Atemnot bis zur Erstickungsangst beim Akuten Hyperventilations-Syndrom), müssen Betroffene besonders einfühlsam durch den Abklärungs- und Aufklärungs-Prozeß begleitet werden. Ein mögliches hilfreiches Vorgehen sieht beispielsweise so aus:

 

1. Zeit gewähren

Die Ruhe und Gelassenheit des Helfers ohne Zeitdruck signalisieren dem panischen Patienten Sicherheit. Kopflosigkeit und Hektik verstärken hingegen die Angstreaktion.

 

2. Ruhige Ansprache 

Klare Worte, langsam gesprochen, in einem ruhigen Ton erreichen am ehesten einen panischen Patienten. Eine sonore Stimmlage und eine flüssige Sprachmelodie wirken günstiger als hektische, laute, abgehackte Befehle.

 

3. Einen „sicheren Raum“ schaffen 

Dies kann sowohl konkret (durch Rückzug an einen ungestörten Ort) als auch imaginativ (durch sprachliches „Ausmalen“ eines geschützten Raumes) geschehen.

 

4. Angenehme Körperposition anbieten 

Meist entspricht das dem Sitzen auf einem bequemen, gut stützenden Sessel. Manchmal wählen Patienten ein langsames Umhergehen. Für die folgenden Übungen bieten sowohl Sitzen, Liegen, Umhergehen gute Voraussetzungen. 

 

5. Atmung lenken 

Einfühlsam und geduldig Wege der Atemlenkung anbieten. Dazu bieten sich verschiedene Methoden an, die auf einer engen Verknüpfung und Zusammenarbeit von Atem-Physiotherapie und Psychopneumologie basieren. Hier bewährt sich ein Kollaboratives Versorgungs-Modell in besonderem Maße.

 

Mit-Atmen des Helfers

Der Helfer atmet geräuschvoll gleichzeitig mit dem Betroffenen aus und führt durch längeres Ausatmen wieder zu einer physiologischen Atmung.

 

Kontakt-Atmen

Der Betroffene legt eine Hand auf die Brust, die andere Hand auf den Bauch und wird dazu ermuntert, den Atembewegungen nachzuspüren. Diese Übung erhöht die Wahrscheinlichkeit, daß der Betroffene unwillkürlich wieder auf eine physiologische Atmung umstellt (bei Hyperventilation liegt meist eine verstärkte Brustatmung vor). Unterstützend kann folgende Formel eingesetzt werden: „Beim Ausatmen senkt sich der Bauch - beim Einatmen hebt sich der Bauch.“ Diese Formel ist jedoch nicht zwingend für die Anleitung. Es soll kein Druck ausgeübt werden, auf eine bestimmte Art zu atmen. Ziel ist es vielmehr, Raum und Sicherheit zu geben, daß sich eine ruhige Atmung wie von selbst entwickeln kann.

 

Atemlenkung durch Bewegungen

Der Helfer kann den Atemfluß wie ein Dirigent begleiten: Arm senken beim Ausatmen – Arm heben beim Einatmen. Der Betroffene kann diese Bewegungen selbst aufnehmen (z. B. mit beiden Armen „Fliegen wie ein Vogel“). Die Ausatemphase soll dabei möglichst verlängert werden.

 

„Wuuu-Atmen“

Der Helfer kann den Betroffenen mit folgender Anweisung unterstützen:

Machen Sie beim Ausatmen ein sanftes „Wuuu“. Halten Sie den Ton „Wuuu“ bis zum Ende der Ausatmung und lassen ihn vibrieren, als käme er aus Ihrem Bauch. Am Ende des Ausatmens halten Sie kurz inne und lassen dann beim nächsten Einatmen zu, daß die Luft langsam Bauch und Brustkorb füllt.

Stellen Sie sich bei dem Ton „Wuuu“ ein Nebelhorn vor. Es signalisiert dem Kapitän bei Nebel, daß das Festland nahe ist und er Schiff und Besatzung sicher in den Hafen leitet.

Wichtig ist, so vollständig wie möglich ausatmen zu lassen und bis zum Ende des Ausatmens das „Wuuu“ zu tönen – kann kurz innezuhalten, bis die Luft beim nächsten Einatmen von selbst in den Körper strömt, wenn es so weit ist.“

 

Dieses „Wuuu-Atmen“ sollte mehrmals wiederholt werden, bis sich der Atemfluß normalisiert hat.

 

Manuelle Unterstützung durch den Helfer

Wichtige Vorbemerkung: Bei Körperinterventionen muß der Betroffene zuvor um Erlaubnis gefragt und das Vorgehen erklärt werden. Unverstandene Berührungen können, gerade in Panikstimmung, von dem Betroffenen als bedrohlich erlebt werden und zu verstärkter Angst führen. Während der Intervention sollte der Helfer mit der betroffenen Person im Dialog bleiben.

 

Bei der manuellen Atemunterstützung legt der Helfer dem Betroffenen die Hand auf den Bauch und gibt beim Ausatmen sanften Druck. Beim Einatmen wird der Druck gelöst und die Hand folgt der Atembewegung des Bauches. Diese Unterstützung wird einige Atemzüge aufrechterhalten. Danach beobachtet man den Atemfluß einen Moment und wiederholt bei Bedarf die Intervention.

 

Ergänzend kann mit der anderen Hand beim Ausatmen ein leichter Druck auf den Thorax gegeben werden. Dadurch entsteht eine atembegleitende Schaukelbewegung zur Förderung eines physiologischen Atemflusses.

 

6. Wertschätzung und Ermutigung 

Sobald eine Tendenz in Richtung Beruhigung und physiologische Atmung einsetzt, soll diese wertschätzend kommentiert werden. Dabei soll der Helfer auch weiter ermutigen und so die Selbstwirksamkeitserwartung des Betroffenen stärken.

 


Falls sich die akute Hyperventilation nicht beruhigt…

 

… kann die „Tüten-Atmung“ eingesetzt werden. Manchmal reichen bereits die gewölbten Hände vor Nase und Mund, damit sich Ein- und Ausatmen normalisieren.

 

Nur als letzte Wahl sollten bei einem Hyperventilations-Syndrom beruhigende Medikamente eingesetzt werden. Mit dem Griff zur Tablette erlernt der Betroffene keine eigenständigen Bewältigungsmöglichkeiten (= Coping) und kann deshalb seine Selbstwirksamkeitserwartung nicht stärken. Genau darauf aber kommt es beim Hyperventilations-Syndrom an!

 


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Beitragschronik


  • Erstveröffentlichung: Auf der Website „Sauerstoff und Sinn“


  • Aktualisierung: 29 .3.2022

 


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