Langer Atem für ein rauchfreies Leben: Interview mit der Psychologin und Institutsleiterin Dr. Karin Vitzthum

Monika Tempel • 24. Mai 2022

Der Welt-Nichtraucher-Tag 2022 lenkt den Blick auf brandaktuelle Themen.



Dankeschön, liebe Frau Dr. Vitzthum, daß Sie bereit sind, als therapeutische Leiterin des Instituts für Tabakentwöhnung und Raucherprävention (Vivantes Netzwerk für Gesundheit GmbH) auf ein paar Fragen zum Thema „Rauchfrei leben“ einzugehen.

 


Impuls:


Dieses Interview ist eingebettet in das Blog-Monatsthema „Lebensstiländerung und Gesundheitsverhalten“. Ist Rauchen ein Lebensstil?

 


Dr. Karin Vitzthum:


Ja tatsächlich ist das Rauchen nur in wenigen Fällen ein Lebensstil, sondern eine Suchterkrankung (F 17.2 – nach der Internationalen Klassifikation Psychischer Störungen ICD). Nur 10% bis 15% aller Raucher:innen rauchen nur ab und zu, aber die überwiegende Mehrheit ist eben abhängig von der Zigarette und vom Rauchen.

 

Leider sind die deutschen Krankenkassen hier noch einer anderen Meinung und so müssen viele Betroffene die Raucherentwöhnungspräparate und Kursangebote fast vollständig selbst bezahlen. Hier besteht eine Ungleichbehandlung zu anderen Suchtkranken.

 


Impuls:


Ihre Bemerkungen zu Lebensstil und Sucht räumen bereits mit einem Mythos im Zusammenhang mit dem Rauchen auf. Im Verlauf des Interviews werden wir uns noch ein paar anderen Mythen widmen. Jetzt aber erstmal ein Blick auf die harten Fakten: Wo sehen Sie den größten Aufklärungsbedarf beim Thema „Rauchen“?

 


Dr. Karin Vitzthum:


Das sind drei sehr wichtige Themengebiete, die aus meiner Sicht in der deutschen Gesellschaft noch relativ wenig bekannt sind:


  • Beispielsweise, dass das Rauchen (neben der Lungen- und Gefäßschädigung) auch einen Einfluss auf eine Demenzerkrankung oder Diabetes haben kann.


  • Und dass natürlich auch nach einer Krebsdiagnose ein Rauchstopp eine Verbesserung sowohl körperlich als auch seelisch bringen kann.


  • Außerdem bleibt bei psychiatrischen Erkrankungen das Thema Rauchen oft unbeachtet und viele psychiatrische Patienten versterben letztendlich dann an den Folgen des Rauchens.

 

Oft herrscht die Meinung vor, man muss es aus eigenem Willen schaffen und es wäre eine Kopfsache - aber das ist nur eine basale Grundvoraussetzung, damit es überhaupt zu einem Versuch kommen kann. Damit es ein erfolgversprechender Versuch wird aus dem Rauchen auszusteigen, ist eine Kombination aus medikamentöser Unterstützung und psychosozialer Begleitung empfehlenswert.

 

Raucherdiäten oder reduziertes Rauchen verlängern meist die Abhängigkeit. Die Schlusspunkt-Methode ist die wirkungsvollste Methode aufzuhören.

 

Ein ganz wichtiger Anstoß kann (und sollte!) dabei sein, wenn das Rauchverhalten regelmäßig von behandelnden Haus- und Fachärzten angesprochen wird und eben auch entsprechende seriöse Behandlungsangebote weitergegeben werden.

 


Impuls:


Damit sind wir bereits bei ganz konkreten Hilfestellungen für Entwöhnungsbereite angelangt. Welche Angebote wirken nachweislich unterstützend im Rahmen der Nikotinentwöhnung?

 


Dr. Karin Vitzthum:


Die gesetzlichen Krankenkassen bieten eine Übersicht zu allen seriösen Entwöhnungsangeboten an. Hier kann mithilfe der eigenen Postleitzahl gesucht werden, aber auch über die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) oder das Bundesministerium für Gesundheit findet man Angebote.

 

Es gab vor einigen Jahren in Chemnitz eine große Studie, die nachweisen konnte, dass für COPD-Patienten große Effekte zu erzielen sind, wenn sowohl die Vermittler des Angebots geschult und vergütet werden, als auch die Behandlung an sich kostenlos angeboten werden kann (die so genannte ATEMM-Studie).

 

Darüber hinaus gibt es inzwischen zwei verschreibungsfähige digitale App-Angebote.

 

Über folgende LINKs findet man alle wichtigen Informationen.


 

Zu seriösen Entwöhnungsangeboten:

 


  • BZgA – Infotelefone - Raucherentwöhnung



 


Zur ATEMM-Studie (und den entsprechenden Veröffentlichungen):

 




 


Gerade in der Umsetzung sind zwei neue Digitale Gesundheits-Anwendungen (DiGA):

 


  • EILA (Firma Pfizer)

 


Impuls:


Gar nicht wenigen gelingt es, spontan aus eigenem Entschluß mit dem Rauchen aufzuhören. Wo finden Entwöhnungswillige, die beispielsweise die Teilnahme an einem in der Regel 4-6wöchigen Nichtraucher-Kurs noch scheuen und es erstmal „allein“ probieren wollen, niedrigschwellige Angebote?

 


Dr. Karin Vitzthum:


Neben den oben angegebenen LINKs gibt es noch viele andere seriöse Informationsquellen, sowohl für Entwöhnungswillige als auch für professionelle Helfer:innen.

 


Für Entwöhnungswillige:

 




  • Motivation zum Rauchstopp – mit vielen Unterpunkten, z. B. Praktische Verhaltenstipps, Schritte auf dem Weg zur Rauchfreiheit, Medikamente und Nikotinersatz, Rauchfrei schlank bleiben, Rauchfrei guter Stimmung, Umgang mit Rückfall, Rauchfrei am Arbeitsplatz, … (DKFZ)





  • IRIS Plattform – Dein persönliches Online-Programm für eine rauch- und alkoholfreie Schwangerschaft





Und hier noch die Informationen für professionelle Helfer:innen:

 

 

 


Impuls:


Das war jetzt eine Liste mit den unterschiedlichsten Angeboten zum selber ausprobieren. Wer sich schließlich doch zu einem Rauchfrei-Kurs entschließt, um auch die wertvolle Unterstützung durch Gleichgesinnte zu nutzen, landet beispielsweise bei Ihnen. Welche Botschaften sind Ihnen bei Ihrem Engagement besonders wichtig, um Entwöhnungswillige zu unterstützen?



Dr. Karin Vitzthum:


Viele Raucher:innen sind jahrelang unfreiwillige Raucher:innen, die sich wünschen nie angefangen zu haben und gerne so schnell wie möglich aufhören würden. Meist haben sie auch schon ein paar erfolglose „Silvesterversuche“ hinter sich.  

 

Viele kennen den Spruch von Mark Twain: „Aufhören ist leicht, das hab‘ ich schon ein paar 1000mal gemacht“.

 

Es geht also in Wirklichkeit vor allem ums Durchhalten im Rahmen der Kurse. Viele Teilnehmer:innen berichten, dass sie es schon viel früher gemacht hätten, wenn sie gewusst hätten, wie einfach es sein kann mit dem Rauchen aufzuhören. Bereits nach 2-3 Monaten erleben viele den ersten Tag, an dem sie überhaupt nicht mehr ans Rauchen denken.

 

Das Rauchen ist kein Grundbedürfnis: Wir haben uns das als Kinder oder Jugendliche  angewöhnt und es gab eine gewisse Eigendynamik. Aber man kann es auch wieder verlernen – daher immer dranbleiben und von Rückschlägen bitte nicht entmutigen lassen.

 


Impuls:


Mit Ihren Botschaften nehmen Sie bereits ein paar häufigen Befürchtungen im Zusammenhang mit dem Rauchstop den Wind aus den Segeln. Gibt es weitere Mythen, die Sie aufgrund von Studienergebnissen und aus Ihrer Erfahrung entzaubern können?

 


Dr. Karin Vitzthum:


Aufhören lohnt sich immer! Das körperliche und seelische Wohlbefinden steigt nach dem Rauchstopp ganz erheblich - der Körper regeneriert sich zum Beispiel bei der Sauerstoffversorgung der Organe. Aber eben auch psychiatrische Erkrankungen verbessern sich langfristig nach dem Rauchstopp, wie zum Beispiel Angststörungen oder Depressionen.

 


Impuls:


Ihre Ausführungen machen sehr viel Mut zur Tabakentwöhnung. Auch das Motto des Welt-Nichtraucher-Tages 2022 will Mut zum Rauchstop machen und eröffnet dazu eine ganz besondere Perspektive…



Dr. Karin Vitzthum:


Das Motto des diesjährigen Weltnichtrauchertages „Mit dem Rauchen aufhören, um unseren Planeten zu retten“, richtet das Augenmerk auf ein weiteres globales Problem - die Klimakrise.

 

Der Tabakanbau verursacht einen riesigen ökologischen Fußbadruck, einerseits durch das Abholzen für den Gewinn neuer Anbauflächen (meist Brandrodung), die Ausbeutung des Bodens, den Wegfall von Ackerflächen, den Einsatz von Pestiziden, hohen Wasserverbrauch, durch das meist mit Feuer unterstützte Trocknen des Tabaks, durch den Transport und natürlich auch die Verschmutzung unserer Umwelt durch die Kippenreste & den Verpackungsmüll.


Hinzu kommen die Ausbeutung von Kindern, die auf den Feldern und bei weiteren Produktionsschritten mitarbeiten müssen und oft unter den Symptomen der Green Tobacco Sickness (=Vergiftung durch Nikotin) leiden.

 

Also noch mehr Gründe einen Rauchstoppversuch zu wagen, denn das Klima ist ja auch für unsere eigene Gesundheit wichtiger denn je!

 

Hier eine kleine LINK-Liste zum Welt-Nichtraucher-Tag 2022:

 

 



  • unfairtobacco – zeigt, wie die Tabakindustrie Menschen schadet und die Umwelt zerstört



Vielen Dank, liebe Frau Dr. Vitzthum, für diese umfangreichen Hintergrundinformationen und besonders für die teilweise überraschenden Zusammenhänge. Sie geben manche Anstöße aus ganz unerwarteten „Ecken“, die alle zu einem rauchfreien Leben ermutigen.

 

Zum Schluß noch der LINK zum Institut, dessen therapeutische Leitung Sie innehaben:

 

 

 

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  • Erstveröffentlichung: 24.5.2022



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