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Deine Lunge für ein ganzes Leben: Selbstfürsorge fördern!

Monika Tempel • Nov. 01, 2022

Das Motto des Welt-COPD-Tages 2022 lenkt den Blick auch auf ein heikles Thema.



Welt-COPD-Tag 2022: Deine Lunge für ein ganzes Leben

 

Im Logo und im Motto des diesjährigen Welt-COPD-Tages spiegeln sich die Kostbarkeit und Verletzlichkeit unserer Lunge sowohl in der bildlichen Darstellung als auch im gewählten Slogan wider: „Deine Lunge für ein ganzes Leben“.

 

Unmittelbar ergibt sich daraus der Impuls, das zarte Organ pfleglich zu behandeln und vor Gefahren zu schützen.

 


Welche Gefahren bedrohen die Lungengesundheit?

 

Der GOLD-Report 2022 zählt folgende Risikofaktoren für die Lungengesundheit auf:

 

  • Genetische Faktoren,
  • Alter und Geschlecht,
  • Lungenwachstum und -entwicklung,
  • Schadstoffbelastung,
  • sozioökonomischer Status,
  • Asthma und hyperreagible Atemwege,
  • chronische Bronchitis,
  • Infektionen.

 


COPD gleich Raucherlunge?

 

Die Liste der Risikofaktoren und die bisherigen Forschungsergebnisse deuten darauf hin, daß COPD weit mehr ist als eine „Raucherlunge“.


Es ist wahrscheinlich, daß Wechselwirkungen zwischen Genen (G) und Umwelt (E = Environment) während des gesamten Lebens (T), beginnend in der Schwangerschaft, den Verlauf der Lungenfunktion und das COPD-Risiko gestalten.

 

Diese Interaktionen werden unter dem Begriff „GETomics“ beschrieben und erforscht. Klar ist, daß die gleiche Interaktion zwischen Genen (G) und Umwelt (E) in verschiedenen Lebensphasen (Lungenentwicklung versus Lungenalterung) zu einem unterschiedlichen Ergebnis führen kann.

 

Diese Forschungsergebnisse haben einige bedeutsame klinische Implikationen:

 

  • Zum einen weisen sie darauf hin, daß die COPD nicht mehr als "einheitliche" Krankheit betrachtet werden kann. Die gebräuchliche Definition und Klassifizierung der COPD, einschließlich der Exazerbationen (Krankheitsschübe) muß überdacht und aktualisiert werden.


  • Zum zweiten besteht inzwischen Einigkeit darüber, daß COPD auch bei jungen Menschen (<50 Jahre) auftreten kann.


  • Außerdem weisen einige Personen (in jedem Alter) strukturelle (z. B. Emphysem auf Computertomographie) und/oder funktionelle Lungenanomalien (z. B. niedrige Kohlenstoff-Monoxid-Diffusionskapazität) bei fehlender Einschränkung des Luftstroms auf. Dies wird als Prä-COPD bezeichnet und kann zu COPD fortschreiten oder nicht.

 

Trotz dieser sehr differenzierten Betrachtungsweise der COPD empfinden immer noch viele COPD-Patienten ihre Erkrankung als selbstverschuldet durch Rauchen. Diese Überzeugung kann das Selbstbewußtsein und Selbstwertgefühl der Betroffenen und die damit zusammenhängenden Emotionen erheblich beeinflußen.

 


Welche belastenden Emotionen zeigen COPD-Patienten mit Raucheranamnese?

 

Selbstbewußtsein und Selbstwertgefühl sind wandelbare Emotionen. Sie werden unter anderem geprägt durch Schuld, Scham, Stolz, Peinlichkeit, Selbstbeschuldigung.

 

Bei COPD-Patienten mit Raucheranamnese (> 10 pack years) überwiegen folgende Emotionen:

 

  • Reue und Bedauern,
  • Scham,
  • Selbstbeschuldigung,
  • Fremdbeschuldigung,
  • Beschwichtigung und Verheimlichung,
  • Sorgen um die Zukunft.

 

Um die Einflüsse dieser Emotionen auf Selbstbewußtsein und Selbstwertgefühl besser zu verstehen, folgt hier eine kurze Klärung der Begrifflichkeiten.

 

  • Reue ist eine Reaktion des verinnerlichten Gewissens auf einen Verstoß gegen die persönlichen Werte und Normen. Es ist ein bedauerndes Gefühl über eine Handlung oder Unterlassung, über etwas, was man trotz gegenteiliger Überzeugung getan oder nicht getan hat.


  • Scham ist eine globale Selbstbeurteilung. Bei Scham wird ein verwerfliches Verhalten als Ausdruck eines unvollkommenen Selbst gesehen (zum Beispiel: "Ich habe diese schreckliche Sache getan, und deshalb bin ich ein schlechter Mensch").


  • Selbstbeschuldigung kann in zwei Formen auftreten: Charakterologische Selbstbeschuldigung bedeutet, den eigenen Charakter als Ganzes in selbstabwertender Weise zu beschuldigen. Das abgelehnte Verhalten wird als Teil des eigenen Charakters betrachtet. Die verhaltensbezogene Selbstbeschuldigung beinhaltet die Überzeugung, daß nur ein bestimmtes Verhalten unangemessen ist. Dieses abgelehnte Verhalten kann geändert und korrigiert werden.


  • Bei der Fremdbeschuldigung werden Außenstehende für das abgelehnte eigene Verhalten verantwortlich gemacht.


  • Beschwichtigung und Verheimlichung erfolgt meist aufgrund von Furcht vor negativer Bewertung durch andere. Im Gegensatz zur meist unbewußten Verleugnung sind Beschwichtigung und Verheimlichung bewußte oder bewußtseinsnahe Verhaltensweisen.


  • Die Besorgnis darüber, wie andere das abgelehnte Verhalten bewerten, kann auch zu Sorgen um die Zukunft führen.

 


Unterscheiden sich COPD-Patienten im Hinblick auf selbstabwertenden Emotionen von gesunden Personen?

 

Im Vergleich zu gesunden Kontrollpersonen zeigen COPD-Patienten bei selbstabwertenden Emotionen deutliche Unterschiede:

 

  • Niedrigeres Selbstmitgefühl,
  • höhere Scham,
  • wenige Stolz.

 

Es ist bekannt, daß diese belastenden Emotionen verknüpft sind mit:

 

  • Reduzierten Bewältigungsfähigkeiten (Coping),
  • höheren Streßlevel,
  • mehr Angst und Depressionen.

 


Wie wirken sich selbstabwertende Emotionen bei COPD-Patienten aus?

 

Selbstabwertenden Emotionen zeigen bei COPD-Patienten erhebliche Auswirkungen auf Befinden und Krankheitsverlauf. Die Zusammenhänge sind teilweise subtil und schwer zu entwirren.

 

  • So sind manche COPD-Patienten davon überzeugt, sie hätten (aufgrund ihrer Rauchergeschichte) kein Recht, über Beschwerden zu klagen (besonders gegenüber ihren Behandlern).


  • Manche Betroffene verheimlichen ihre Erkrankung (auch gegenüber Freunden und Arbeitskollegen).


  • Gefühle von Reue und Selbstbeschuldigung führen dazu, das notwendige Unterstützung nicht, verzögert oder sogar zu spät gesucht wird.


  • Scham hält davon ab, notwendig Therapiemaßnahmen (z. B. LTOT) anzuwenden, da beispielsweise durch das Sauerstoffgerät die COPD nach außen sichtbar gemacht wird.


  • Ein Gefühl der Wertlosigkeit hält manche COPD-Patienten davon ab, eine verordnete Pneumologische Rehabilitation (PR) anzutreten. Meist unterschwellig herrscht bei diesen Betroffenen die Überzeugung: „Ich hab´ die Reha nicht verdient.“


  • Fast zwangsläufig führen selbstabwertende Emotionen zu Rückzug und sozialer Isolation. Damit verstärken sie die Wahrscheinlichkeit von Ängsten und depressiven Reaktionen.

 


Selbstmitgefühl statt Selbstanklage!

 

Selbstanklage, Selbstabwertung, Selbststigmatisierung: Diese (und einige weitere) selbstabwertende Emotionen erschweren oder versperren gar den Zugang zu einer erfolgreichen Krankheitsverarbeitung (Coping). Es ist also erforderlich, einen anderen Umgang mit der Raucheranamnese bei COPD zu finden.

 

Änderungsbereitschaft ist sowohl bei Behandlern als auch bei Patienten und Angehörigen notwendig.

 


Wie können Behandler zu mehr Selbstmitgefühl bei COPD-Patienten beitragen?

 

  • Durch geschärfte Selbstwahrnehmung von eigenem stigmatisierenden Verhalten.


  • Durch höhere Aufmerksamkeit für selbstanklagende und selbstabwertende Emotionen bei Patienten.

 


Wie können COPD-Patienten ihre Selbstfürsorge stärken?

 

  • Durch die Bereitschaft, sich mit den eigenen selbstwertbezogenen Emotionen auseinanderzusetzen.


  • Durch die Offenheit für gezielte Interventionen, falls sie durch selbstabwertende Emotionen psychisch belastet und beispielsweise Ängste oder Depressionen entwickeln.

 


Fazit für die psychopneumologische Praxis

 

  • Obwohl einige Studienergebnisse darauf hindeuten, daß Prozesse des Selbstmitgefühls eine Rolle bei der Linderung von Ängsten und Depressionen bei chronisch körperlich kranken Menschen spielen könnten, ist das Vertrauen in diese Behauptung aufgrund methodischer Einschränkungen noch begrenzt.


  • Wegen der großen Bedeutung von selbstwertbezogenen Emotionen bei COPD-Patienten scheinen spezifische Interventionen zur Unterstützung des Selbstmitgefühls dennoch bedenkenswert.


  • Selbstmitgefühl ist ein Schlüsselelement der Achtsamkeit. Es umfaßt die Komponenten Selbstliebe, Mitmenschlichkeit und Achtsamkeit und könnte eine Rolle als Wirkfaktor im Rahmen von Achtsamkeitsbasierter Kognitiver Therapie (MBCT = Mindfulness Based Cognitive Therapy) spielen.


  • Achtsamkeitsbasierte Selbstmitgefühl-Programme sind relativ einfach durchführbar, werden in der Regel gut akzeptiert und sollten speziell für COPD-Patienten erforscht werden. Damit der nächste Schritt getan wird, um statt eines jährlichen Welt-COPD-Tages ein Leben lang gesunde Lungen feiern zu können.

 

 

Themenverwandte Beiträge


 


 

 

Beitragschronik


  • Erstveröffentlichung: 1.11.2022



Quellen und weiterführende Literatur

 


  • Agusti, A., & Vogelmeier, C. F. (2022). World COPD Day 2022: Your Lungs for Life. American Journal of Physiology-Lung Cellular and Molecular Physiology.


  • Harrison, S. L., Robertson, N., Goldstein, R. S., & Brooks, D. (2017). Exploring self-conscious emotions in individuals with chronic obstructive pulmonary disease: a mixed-methods study. Chronic respiratory disease, 14(1), 22-32.


  • Hughes, M., Brown, S. L., Campbell, S., Dandy, S., & Cherry, M. G. (2021). Self-compassion and anxiety and depression in chronic physical illness populations: A systematic review. Mindfulness, 12(7), 1597-1610.



  • Neff, K. D., & Germer, C. K. (2013). A pilot study and randomized controlled trial of the mindful self‐compassion program. Journal of clinical psychology, 69(1), 28-44.

 

 

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