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Psychopneumologie Lexikon: N wie Nicht-invasive Beatmung

Monika Tempel • Juni 14, 2022

Wie die NIV-Maske von der „ungeliebten Retterin“ zum „treuen Haustier“ werden kann.

Die nicht-invasive mechanische Beatmung (engl. Non Invasive Ventilation = NIV) ist eine nachweislich wirksame Behandlungsoption für Patienten mit akuter oder chronischer Ateminsuffizienz und Hyperkapnie (erhöhtem CO2-Gehalt im Blut). Bei einigen Patienten gilt sie dennoch als „ungeliebte Retterin“.

 


NIV: Was ist das genau?


Unter der nicht-invasiven Beatmung, kurz NIV, versteht man die Atemunterstützung oder Beatmung über eine Atemmaske (bzw. über einen Atemhelm). Ohne Verwendung eines invasiven Beatmungszugangs (Tubus oder Trachealkanüle) wird der Patient so mit dem notwendigen Beatmungsdruck und ausreichend Sauerstoff versorgt.


NIV lindert respiratorische Symptome (Atemnot und beschleunigte Atemfrequenz) und reduziert den Energieverbrauch. Studien belegen, daß NIV zu einer längeren Überlebenszeit und einer höheren gesundheitsbezogenen Lebensqualität führt.


Trotz dieser Vorteile wird die NIV von einem Teil der Patienten abgelehnt, häufig aufgrund von psychologischen Faktoren.

 


Einsatzgebiete der nicht-invasiven Beatmung

 

Bei der Betrachtung der psychosozialen Effekte durch NIV ergibt sich ein sehr vielgestaltiges Bild. Zunächst muß unterschieden werden nach Indikationen und Krankheitsbildern.

 

Je nach Indikation oder Krankenbild zeigen sich nämlich unterschiedliche Auswirkungen bei Patienten und Betreuern, sowie verschiedene Einstellungen auf Seiten der Behandler.

 

Krankheitsbilder, bei denen NIV zum Einsatz kommt:


  • (Chronische) Lungen-Erkrankungen,
  • Thoraxdeformitäten (angeborene oder erworbene Fehlbildungen des Brustkorbes),
  • Neuromuskuläre Erkrankungen (z. B. Amyotrophe Lateralsklerose = ALS).

 

Indikationen, bei denen NIV zum Einsatz kommt:


  • Akute Respiratorische Insuffizienz (ARI),
  • Chronische Respiratorische Insuffizienz (CRI),
  • Weaning (Beatmungs-Entwöhnung) .

 


NIV bei Akuter Respiratorischer Insuffizienz: die häufigsten Behandlungsängste

 

Als Gründe für die Ablehnung der NIV bei ARI finden sich vor allem angstbesetzte Themen:


  • Angst vor Verlust (von Kontrolle, Autonomie, Würde, Selbstbild, Lebensqualität),
  • klaustrophobische Ängste („Platzangst“, Angst vor dem Ersticken, Todesangst).

 

Die Erfahrung der NIV bei ARI (z. B. im Rahmen einer Exazerbation) stellt für viele Patienten ein unerwartetes, streßvolles Erleben dar. Dieses Erleben wird von Behandlern häufig nicht angemessen wahrgenommen, beurteilt und bei der Einleitung der Behandlung berücksichtigt. Aus dieser Konstellation erklären sich die typischen geschilderten Ängste und Panikreaktionen:


  • Angst vor Maske und Technik,
  • Angst vor Tod und Sterben,
  • Angst vor Schmerz und Leiden.

 


NIV und die entscheidende Rolle der Angehörigen und Behandler

 

Studien zeigen: Nicht nur Patienten, auch Angehörige erfahren während einer NIV ein hohes Maß an Angst.


Das Ausmaß der Angst ist dabei vor allem abhängig:


  • vom Grad der Atemnot des Patienten,
  • von der Länge der NIV-Phasen,
  • von der Notwendigkeit einer Intensivbetreuung.

 

Bemerkenswert ist, daß Patienten, Angehörige, Intensivpflegekräfte und Intensivmediziner die Nicht-Invasive Beatmung offenbar sehr unterschiedlich beurteilen.


Diese Beobachtung eröffnet Perspektiven, um angstverstärkende Faktoren zu minimieren und dadurch die Traumatisierungsgefahr zu reduzieren. Denn mehrere aktuelle Studien zur NIV bei ARI weisen darauf hin, daß sich die anfängliche Angst und Panik bei Patienten und Angehörigen durch ein angemessenes NIV-Management günstig beeinflußen lassen.



NIV: Der Weg zur Akzeptanz

 

In einer Studie konnten drei Phasen der NIV-Adaption identifiziert werden:


  • Unbehagen,
  • Übergangsphase,
  • Toleranz (oder Ablehnung).

 

Patienten schildern zudem folgende Erfahrungen auf ihrem Weg vom Unbehagen bis zur Toleranz (oder Ablehnung):


  • kognitive Beeinträchtigungen bei NIV (Erinnerungslücken, Amnesie, Todesangst,
  • Halluzinationen),
  • hohe emotionale Verletzlichkeit,
  • Abhängigkeit von der Führung durch das medizinische Personal.

 

Die Patienten erfahren die NIV einerseits als Lebensretter, andererseits als Belastung (auch für Angehörige und Pflegekräfte). Das Ringen mit diesen widersprüchlichen Erfahrungen führt schließlich zu Akzeptanz der Unannehmlichkeiten (oder zum Behandlungsabbruch).



NIV bei chronischer respiratorischer Insuffizienz: Auch hier Behandlungsängste

 

Auch in Studien zur NIV bei Chronischer Respiratorischer Insuffizienz beklagen COPD-Patienten Unbehagen und Angst aufgrund der Beatmung, obwohl die Situation nicht so akut und lebensbedrohlich ist wie bei einer ARI.


Auch bei CRI sind ähnliche Faktoren entscheidend für eine erfolgreiche Angstbewältigung auf dem Weg zur NIV-Akzeptanz:


  • ausreichende Informationen,
  • Präsenz und Zuverlässigkeit des medizinischen Personals,
  • angemessene (medikamentöse) Angstlinderung.



NIV bei neuromuskulären Erkrankungen: Effekte auf Patienten und Angehörige

 

Eine besondere Situation stellt die NIV bei Patienten mit neuromuskulären Erkrankungen (engl. Neuromuscular Disease = NMD) dar.


Die meisten bisherigen Studien befassen sich mit ALS-Patienten und untersuchen die Effekte von NIV auf die gesundheitsbezogene Lebensqualität.


Während die ALS-Patienten selbst in der Regel eine vergleichsweise hohe Lebensqualität und eine gute psychologische Anpassung an die Beatmung erreichen, zeigen Betreuer von ALS-Patienten vermehrt psychische Störungen (Angst, Depressionen) aufgrund der NIV und eine insgesamt hohe

Belastung.


Es bestehen enge Zusammenhänge zwischen der NIV-Akzeptanz von Patienten und Betreuern. Betreuer mit guten Bewältigungsstrategien (v. a. durch Sinngebung) akzeptieren eher eine NIV als Betreuer mit geringer Resilienz (psychischer Widerstandskraft) und höherer emotionaler Labilität.


Gerade bei ALS (aber auch bei ARI und CRI) ist NIV also eine Familienerfahrung, die entsprechende familienorientierte psychosoziale Interventionen erfordert.

 


NIV-Management: Fazit für psychopneumologische Interventionen

 

Patientenerfahrungen liefern wertvolle Hinweise für ein angemessenes NIV-Management. Daß sich die NIV-Akzeptanz durch gezielte nichtmedikamentöse Interventionen fördern läßt, haben bereits mehrere prospektive, randomisierte und kontrollierte Studien gezeigt.

 


Studie zum Effekt einer Musik-Intervention auf die Toleranz und Effizienz der NIV (Mus-IRA)

 

Die angebotene musikalische Intervention reduziert zwar nicht signifikant die Atembeschwerden bei Patienten, die wegen ARI eine NIV benötigen. Sie wirkt sich jedoch positiv auf physiologische Reaktionen (Hämodynamik) aus und verringert die traumatische Erfahrung (gemessen bei der Entlassung aus der Intensivstation).

 


Studie zum Effekt einer psychologischen Kurz-Intervention auf NIV-Akzeptanz und Adhärenz

 

Die psychologische Kurz-Intervention bringt Verbesserungen sowohl bei der Einhaltung der NIV als auch bei der Lebensqualität im Vergleich zur Kontrollgruppe nach acht Sitzungen ab Studienbeginn. Die Ergebnisse zeigen eine signifikante Veränderung der gesundheitsbezogenen Lebensqualität im Laufe der Zeit.


Diese Ergebnisse deuten darauf hin, daß die psychologische Kurz-Intervention in der klinischen Praxis eine geeignete Behandlung für die Akzeptanz und die Befolgung der NIV bei COPD darstellt. Sie unterstreichen, wie wichtig es ist, die Gründe für die Verwendung von NIV zu ermitteln.

 


Studie zum Einsatz von hypnotischer Suggestion bei NIV-Einleitung

 

Nach dem Einsatz von hypnotischer Suggestion bewerten Patienten die Atemmaske als signifikant angenehmer als vor der Intervention. Die physiologischen Reaktionen zeigen, daß Atemfrequenz und Herzfrequenz während der Intervention abnehmen.

 

Zu einem angemessenen NIV-Management sollten die vielfältigen Ansätze von  psychopneumologischen Methoden stärker in Betracht gezogen werden.

 


Hinweis: Bei Interesse an Selbsthilfe-Methoden im Zusammenhang mit NIV-Behandlung können über das Kontaktformular weiterführende Materialien (u. a. in Anlehnung an die oben genannten psychopneumologischen Ansätze) angefordert werden.

 


Quellen und weiterführende Literatur:

 

Tempel, M. (2016). Langzeitsauerstofftherapie und Beatmung. Der Pneumologe, 13(3), 191-197.

 

Tempel, M. (2018). Langzeit-Sauerstofftherapie und nichtinvasive Beatmung–Achterbahn für die Seele?. Atemwegs- und Lungenkrankheiten, 44(5), 250.

 

Messika, J., Martin, Y., Maquigneau, N., Puechberty, C., Henry-Lagarrigue, M., Stoclin, A., ... & Ricard, J. D. (2019). A musical intervention for respiratory comfort during noninvasive ventilation in the ICU. European Respiratory Journal, 53(1).

 

Volpato, E., Banfi, P., & Pagnini, F. (2022). Promoting Acceptance and Adherence to Noninvasive Ventilation in Chronic Obstructive Pulmonary Disease: A Randomized Controlled Trial. Psychosomatic Medicine, 84(4), 488-504.

 

Schmidt, B., Schneider, J., Deffner, T., & Rosendahl, J. (2021). Hypnotic suggestions of safety improve well-being in non-invasively ventilated patients in the intensive care unit. Intensive care medicine, 47(4), 485-486.

 

 

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Beitragschronik

 

Erstveröffentlichung: 14.6.2022

 

 

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